Unstrittig gehört der 50-jährige norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård zu einem der eigenwilligsten Phänomene der zeitgenössischen Literatur. Wie besessen vom Schreiben veröffentlichte er in den vergangenen Jahren Buch um Buch - allein auf Deutsch wurden von ihm seit 2011 mehr als 7.000 Buchseiten gedruckt. Sein sechsbändiger autobiographischer, inzwischen in 30 Sprachen übersetzter Roman "Min Kamp" machte ihn quasi über Nacht zu einem der weltweit berühmtesten Autoren unserer Zeit. Am Ende des sechsten Bandes, der bei uns unter dem Titel "Kämpfen" erschien und allein schon knapp 1.300 Seiten umfasst, notiert er unter dem Datum 2.September 2011:
"Es ist 07:07 Uhr, und der Roman ist endlich fertig. In zwei Stunden kommt Linda, dann werde ich sie umarmen und sagen, dass ich fertig bin und ihr und unseren Kindern nie wieder so etwas antun werde. (...) Danach werden wir den Zug nach Malmö nehmen, uns ins Auto setzen und zu unserem Haus fahren, und auf dem ganzen Weg werde ich den Gedanken genießen, dass ich kein Schriftsteller mehr bin."
Fortsetzung des autobiographischen Schreibens
Man kann verstehen, dass sich der Autor nach einer 5.000-seitigen Tortur des autobiographischen Schreibens erst einmal erholen musste: Über lange Zeitphasen hinweg tippte er tagtäglich bis zu zwanzig Seiten in den Computer. Dass Knausgård aber mit der Schriftstellerei aufhören würde, glaubte niemand. Sie war zu einem bestimmenden Teil seines Lebens geworden. Es brauchte nur einen Anlass, um sich wieder vor den Bildschirm des PC zu setzen. So entstand 2014 innerhalb eines Monats ein 600 Seiten umfassender Briefwechsel mit seinem norwegischen Kollegen und Freund Fredrik Ekelund aus Anlass der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien, veröffentlicht unter dem Titel "Kein Heimspiel". In die ausführlichen Kommentare zu den einzelnen Spielen mischen sich Gedanken über Kunst und Philosophie und Darstellungen aus dem sommerlichen Alltag Südschwedens. So beginnt etwa ein Brief Knausgårds vom 2. Juni:
"Lieber Fredrik, es ist jetzt zehn nach acht am Abend, es war ein heißer Tag mit Sonne und blauem Himmel, Anne schläft, Vanja und Heide sehen sich Der Sleepover Club auf dem Computer an, beide im Schlafanzug, wie es sich gehört, John schaut Kinderfernsehen, Linda ist über Nacht in Helsingborg (...), und ich habe gerade gesehen, wie Argentinien Nigeria 3:2 geschlagen hat."
Der Blick auf die kleinen Dinge des Alltags
Anne ist die Jüngste der vier gemeinsamen Kinder der Schriftstellerin Linda Boström und Karl Ove Knausgård. Als Linda mit der jüngsten Tochter schwanger geht, beginnt Knausgård erneut ein Buchprojekt, eine Tetralogie über die vier Jahreszeiten. Die ersten beiden Bände sind der noch ungeborenen Tochter gewidmet und an sie gerichtet. Knausgård will mit seinen Texten dem Kind Einblicke in eine Welt ermöglichen, die es später einmal selbst erkunden wird. Die Bände "Im Herbst" und "Im Winter" versammeln insgesamt 120 kurze Prosastücke, die sich mit den unterschiedlichsten Gegenständen aus unserer Dingwelt befassen. In den Miniaturen räsoniert Knausgård über "Äpfel" oder "Frösche" genauso wie über "Thermosflaschen", "Toilettenschüsseln", "Stiefeletten" oder "Menschliche Kontakte". Knausgård vermittelt in den Texten seine Gedanken, die er sich beim Anblick von Objekten oder bei der Beschäftigung mit Wahrgenommenem macht. Über die Farben Rot und Grün sagt er etwa:
"Für mich liegt so viel in diesen beiden Farben, etwas an ihnen zieht mich magisch an, und ich glaube, es ist einer der Gründe dafür, warum ich Schriftsteller geworden bin, denn ich spüre diese Anziehungskraft so stark und begreife, dass sie wichtig ist, aber mir fehlen die Worte, um sie auszudrücken, und deshalb weiß ich nicht, was es ist. (...) All das Fantastische, dem du bald begegnen, das du bald sehen darfst, verliert man so leicht aus den Augen (...). Deshalb schreibe ich dieses Buch für dich. Ich will dir die Welt zeigen, wie sie ist und wie sie uns umgibt, die ganze Zeit. Nur indem ich das tue, kann ich sie selbst sehen."
Es ist eine bemerkenswerte Ambivalenz, die sich in diesen Worten ausdrückt. Schriftsteller sein, weil einem die Worte fehlen, klingt paradox; jemandem die Welt zeigen mit dem Hintergedanken, sie vor allem für sich selbst zu entdecken, deutet auf Knausgårds Egozentrik hin. Die schonungslose Darstellung seiner konfliktbeladenen Selbstbezogenheit hat er in seinem umfangreichen autobiographischen Roman exzessiv zur Schau gestellt. Insofern es in der nach "Min Kamp" entstandenen Jahreszeiten-Tetralogie vorrangig nicht mehr um Existenzprobleme geht, sondern um illustrative Begleitbücher für ein Kind, ist aus der Prosa alles Aggressive und Verletzende gewichen. Der Grundton der Briefe an die ungeborene Tochter und die Beschreibung von Dingen aus dem täglichen Leben ist durchweg liebevoll, tastend, vorsichtig, fast zärtlich. Das Familiäre nimmt dabei eine zentrale Stellung ein. In dem Prosastück "Zahnbürsten" etwa entwirft Knausgård ein Bild der Zusammengehörigkeit von Individuen, von denen doch eigentlich erwartet wird, dass sie jeweils auf ihre Eigenheiten bedacht sind. Zwar stecken im Badezimmer wie ein kleiner Strauß Blumen in einem Becher verschiedenfarbige Zahnbürsten, aber die Kinder benutzen sie wahllos eine wie die andere.
"[Wenn] der Abend beendet ist und die Nacht wartet, greifen sie einfach nach irgendeiner Bürste in dem Becher, rosa, hellblau, grau, weiß, das spielt keine Rolle; drücken ein wenig Zahnpaste auf die Bürste, beginnen, sich mit mechanischen, zerstreuten Bewegungen die Zähne zu putzen (...) Etwas in mir reagiert darauf, dieses Teilen weckt in mir ein Gefühl von schlechter Hygiene, Unordnung, Vermischung, Chaos, von etwas Ungesundem. (...) Es ist ein irrationales Gefühl, denn als Familie leben wir ohnehin ganz eng zusammen; wir benutzen dieselbe Toilette, essen dieselben Gerichte, (...) schlafen ab und zu in denselben Betten (...), und wenn einer krank wird, stecken die anderen sich schnell an."
Auf der Suche nach vermisster Geborgenheit
"Keine Fülle, nur Gedanken", charakterisiert Knausgård einmal die Form seiner Prosa. Inhaltlich gilt für ihn die Prämisse: "Das dem Leben Nächstliegende liegt in der Mitte, im Durchschnittlichen." In den Miniaturen über Alltagsgegenstände zügelt er in den ersten beiden und auch im vierten der Jahreszeitenbände seine sonst ausufernde Gedankenprosa durch die rein äußerliche Begrenzung der Miniaturen auf zwei bis drei Buchseiten. Nicht zu lang, nicht zu kurz - durchweg vergnüglich ist die Lektüre von Knausgårds Reflexionen über Alltagsdinge. Ganz gleich, ob er über "Bienenzucht", "Kaugummis" oder "Schneewehen" sinniert, immer überrascht er in seinen Beschreibungen durch originelle Assoziationen.
Zu allem scheint Knausgård etwas zu sagen zu haben. Er muss gespürt haben, dass die überbordende Fülle der Reflexionen schnell auch etwas Ermüdendes hat. Möglicherweise hat er sich deshalb für den dritten Band "Im Frühling" für eine gänzlich andere Form und Thematik entschieden. Hier nämlich erzählt Knausgård seiner inzwischen drei Monate alten Tochter auf 250 Seiten von einem einzigen Tag im südschwedischen Frühling. Minutiös und unspektakulär schildert er dem Baby in ruhigem Ton, was er an diesem einen Tag im April gemacht hat, wen er traf oder woran er sich erinnert. Auffallend bei diesem Tagebuchbrief sind nicht nur die wehmütigen Passagen, in denen er die schwierige Beziehung zu seiner Frau andeutet, sondern auch eingehende und sensible Naturbeschreibungen.
Nicht von ungefähr sind allen vier Jahreszeiten-Bänden farbige Bilder beigegeben. Sie verdeutlichen, zu welcher Kunstform sich Knausgård am meisten hingezogen fühlt – es ist die der Malerei. Das Aquarell, das gemalte Bild nämlich bedarf keiner Worte, um sich die Welt und das Leben zu erklären. Der letzte Band "Im Sommer" enthält ein Dutzend Blumen-Aquarelle Anselm Kiefers. In einer Tagebuchpassage vom Juni 2016, die Knausgård in den Band einmontiert hat, beschreibt er einen Besuch bei dem berühmten Künstler in seinem riesigen Hallen-Atelier in der Nähe von Paris. Knausgård berichtet äußerst zurückhaltend über dieses Zusammentreffen, wie sehr es ihn auch beeindruckt haben muss. Denn wie der Schriftsteller Knausgård ist der Künstler Kiefer ein unermüdlicher Arbeiter, der von morgens bis abends für nichts anderes da ist als für seine Kunst. Mit Anselm Kiefer verbinden Knausgård nicht nur, wenn auch jeweils auf andere Weise, problematische Kindheitserlebnisse, sondern auch die unentwegte Bemühung, das eigene Leben in der Gegenwart zu dokumentieren, sich in monumentalen Werken zu verwirklichen und dadurch eine entgangene Geborgenheit und Liebe durch das ständige Aufmerksam-Machen auf sich selbst und die eigene Geschichte einzufordern.
Karl Ove Knausgård: "Im Herbst". Mit Bildern von Vanessa Baird. 2017; "Im Winter". Mit Bildern von Lars Lerin. 2017; "Im Frühling". Mit Bildern von Anna Bjerger. 2018; "Im Sommer". Mit Aquarellen von Anselm Kiefer. 2018; aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Literaturverlag, München. 310, 250, 492 Seiten, je 22 Euro.
Karl Ove Knausgård / Fredrik Ekelund: "Kein Heimspiel". Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenborg., btb Verlag, München, 2018. 640 Seiten, 16 Euro.