Ein kleiner Vortragsraum in der Nähe des Istanbuler Taksim-Platzes. "Wir sprechen über Kobane" haben die Organisatoren die Veranstaltung genannt. Vor allem linke Studenten, Kurden und Journalisten sind ihrer Einladung gefolgt.
Per Skype wird Enver Muslim, der stellvertretende Vorsitzende des Kantons Kobane zugeschaltet. Auf Kurdisch beschreibt er die Lage in seiner Stadt. Ein türkischer Fotograf, der während der heißen Phase zwei Wochen in Kobane verbrachte, zeigt Bilder auf einer Großleinwand: Vermummte Männer, die von Hausdächern schießen, kurdische Frauen mit Gewehren im Arm, kleine Kinder, Häuser, Ruinen. Knapp 2.000 Menschen seien noch in der Stadt gewesen, als er sie verließ, schätzt der Fotograf. 2.000 Menschen, für deren Überleben die türkische Regierung Verantwortung übernehmen müsse.
"Sie brauchen humanitäre Hilfe. Lebensmittel, Kleidung, ärtzliche Versorgung und Medikamente. Die Leute dort werden krank, allein schon, weil sie durch die Gefechte nicht schlafen können. Und wegen der fehlenden Hygiene. Vor allem aber brauchen sie Waffen, weil sie mit ihren leichten Gewehren nicht gegen das schwere Geschütz der IS-Kämpfer ankommen."
Die Zuhörer nicken eifrig. Fast alle hier kritisieren das Verhalten der türkischen Regierung, die seit Beginn der Kämpfe weder Waffenlieferungen für die Kurden zulässt, noch selbst eingreift. Ein junger Mann empört sich:
"Die Menschen in Kobane kämpfen für Demokratie und menschliche Werte. Es geht um die einzige säkulare und wirklich demokratische Region im Nahen Osten. Aber die AKP tut nicht, was sie tun könnte, um das zu bewahren."
Zurückhaltender Kurs
Soll sie auch gar nicht, finden viele Istanbuler außerhalb des Vortragsraums. Selbst die Gäste eines Bierpubs, die offensichtlich wenig von der AKP-Regierung halten, sind im Fall von Kobane mit deren zurückhaltendem Kurs einverstanden.
"Die Türkei sollte sich da nicht einmischen. Ich will nicht, dass türkische Soldaten in einem Krieg kämpfen, der gar nicht unser Krieg ist."
"Strategisch, ökonomisch, politisch, militärisch... In jeder Hinsicht würde ein türkisches Eingreifen nur schaden. Schon jetzt warnen manche Länder ihre Bürger: Fahren Sie nicht in die Türkei. Das schadet dem Tourismus."
"Ich habe vor allem Angst vor dem Terror. Wenn die Türkei sich dort einmischt, könnte es hier zu Anschlägen kommen."
Angst. Das ist womöglich auch das Gefühl, dass den Schlingerkurs der türkischen Regierung beherrscht. Tatsächlich ist deren Rolle sehr viel komplizierter als die der Europäer, die lautstark ein Eingreifen Ankaras fordern. Eigentlich, so der Istanbuler Politikwissenschaftler Fuat Keyman, müsste die Türkei die IS-Milizen mit aller Macht bekämpfen.
"Wenn IS tatsächlich ein Staat wird, bedeutet das ein großes Risiko für die Türkei, wegen der langen Grenze, die man sich dann teilen müsste. Und dann ist da das Flüchtlingsproblem: Die Türkei hat eigentlich 77 Millionen Einwohner, wegen der syrischen Flüchtlinge sind es momentan 79 Millionen. Und wenn die Menschen bald vor einem tatsächlichen Islamischen Staat fliehen, könnten es leicht 81 oder 82 Millionen werden."
Kobane unweit von türkischem Staatsgebiet
Doch Ankara sitzt in der Zwickmühle! Was, wenn die Islamisten gewinnen - und sich dann rächen wollen? Von Kobane aus könnten sie türkisches Staatsgebiet bald mit Pfeil und Bogen erreichen. Auch müsste die Türkei, um die Islamisten zu stoppen, die kurdischen Milizen in Kobane stärken. Das aber birgt die Gefahr, dass die gelieferten Waffen eines Tages im nach wie vor ungelösten Kurdenkonflikt im eigenen Land zum Einsatz kommen könnten.
Und nicht zuletzt spielt der Mann eine Rolle, der durch den Kampf gegen die Terrormiliz IS plötzich international rehabilitiert werden könnte: Der syrische Präsident Assad, auf dessen Fall die Türkei von Anfang an gesetzt hatte, könnte als gestärkter und somit gefährlicherer Nachbar aus dem Konflikt hervorgehen. Dass die syrischen Kurden sich nie offen gegen ihn gestellt haben, hat Ankaras Misstrauen ihnen gegenüber nur noch vertieft.
Schwierige Situation
Geografisch, strategisch, geschichtlich: Die türkische Situation ist kompliziert. Eine Entschuldigung habe sie deswegen jedoch nicht.
"Die türkische Regierung war zu langsam und zu unvorbereitet, um die ganze IS-Sache zu verstehen, resümmiert Politikwissenschaftler Keyman. Wäre es gefährlich, die Kurden zu bewaffnen? Könnte Assad sich für die offene Feindschaft rächen? Unklarheit und Unsicherheit haben dazu geführt, dass wir jetzt als passiv dastehen."
Eine Passivität, die zwar im Ausland mit Unverständnis, in der Türkei selbst aber vor allem mit Erleichterung beobachtet wird. Der sonst so forsche Herr Erdogan, finden selbst seine ärgsten Gegner, tue ausnahmsweise einmal das richtige: Nichts.