Andreas Main: Herr Kardinal Woelki, die Weihnachtsfeiertage und die Tage davor sind einfach Großkampftage für einen Bischof. Schön, dass Sie sich dennoch die Zeit genommen haben. Danke dafür und willkommen beim Interview der Woche im Deutschlandfunk.
Rainer Maria Woelki: Ja, gerne, ich freue mich.
Main: Kardinal Woelki, in den vergangenen Jahren war viel die Rede von einer Protestantisierung der deutschen Politik. Jetzt standen für den CDU-Vorsitz drei katholische Kandidaten beziehungsweise eine Kandidatin zur Wahl. Inwiefern stimmt Sie das hoffnungsfroh?
Woelki: Also, ich freue mich einfach darüber, dass Christen unsere Gesellschaft mit prägen wollen und dass sie sich einbringen in das gesellschaftliche Miteinander und den gesellschaftlichen Diskurs. Das ist eigentlich das, was für mich das Entscheidende ist. Für mich ist nicht so ausschlaggebend, ob jetzt einer Protestant oder orthodoxer Christ oder katholischer Christ ist, sondern das Entscheidende ist, dass es uns gelingt, als Christen unsere Gesellschaft in einer Weise zu gestalten, die dazu beiträgt, dass die Mitte und die Einheit der Gesellschaft gewährleistet ist, auch auf Zukunft hin. Und ich glaube, dass wir da als Christen Wesentliches mit beitragen können - aufgrund von unserem Menschenbild, von unserem Gottesbild her und sicherlich auch von dem, wofür etwa eine katholische Soziallehre steht, die in der Vergangenheit ja die Bundesrepublik Deutschland in vielen sozialen Fragen mit geprägt hat.
"Das Soziale der Marktwirtschaft muss im Mittelpunkt stehen"
Main: Sie sprechen die katholische Soziallehre an. Annegret Kramp-Karrenbauer ist noch nicht Kanzlerin, aber wenn es denn so weit kommen sollte - sie ist stark geprägt von eben dieser katholischen Soziallehre, die eher als links gilt. Wie würde sich Deutschland verändern, wenn die katholische Soziallehre mehr in den Mittelpunkt des Regierungshandelns rückte?
Woelki: Also ich finde, dass wir auf jeden Fall sehr stark den Gedanken der Solidarität betonen müssen, der vielleicht in der Vergangenheit etwas aus dem Blick geraten ist. Dass wir also hier weiterhin in Deutschland eine solidarische Gesellschaft sein müssen und dass "der Schwache" und "der Kleine" auch in den Blick genommen werden muss und im Blick bleiben muss. Es darf nicht sein, dass unsere Gesellschaft weiter auseinanderdriftet, dass es zu sozialen Verwerfungen kommt und deshalb muss Solidarität und die Orientierung am Gemeinwohl sehr stark betont werden.
Ich finde, dass unser Wirtschaftssystem als soziale Marktwirtschaft hier gute Möglichkeiten bietet; aber das Soziale der Marktwirtschaft - das muss im Mittelpunkt stehen. Das heißt natürlich auch, dass wir den "Schwachen" und "Kleinen", den sogenannten "Kleinen" und "Schwachen", fördern müssen. Dass er auch dazu animiert werden muss, seinen eigenen Beitrag zu bringen. Das gilt mit Blick auf seine Personenwürde, die es da auch in den Mittelpunkt zu stellen gilt. Das sind eigentlich die Prinzipien der katholischen Soziallehre. Und ich glaube, wenn wir uns daran halten, werden wir hier ganz gut fahren.
Main: Offenbar sehen Sie da noch ein bisschen Luft nach oben. Wenn Sie sich die stärkste politische Kraft in Deutschland anschauen, die CDU und die CSU, welchen Eindruck haben Sie? Ist das C, das für christlich steht, ausreichend ausgeprägt - oder sehen Sie da eher noch Mankos?
Woelki: Also es sind immer Mankos. Es ist auch bei uns in der Kirche ein Manko. Das C ist eine Messlatte, und diese Messlatte ist das Evangelium und danach haben wir uns, wenn wir dieses C betonen, überall dort, wo es betont wird, daran auszurichten und daran messen zu lassen. Das ist eine Herausforderung, die sich eine politische Partei, der sie sich zu stellen hat und der wir uns natürlich auch als Kirche stellen müssen.
"Ich finde, dass Volksparteien wichtig sind"
Main: Zuletzt gab es starke Wählerwanderungen hin zur AfD und hin zu den Grünen. Das wird beschrieben als Niedergang der Volksparteien. Gewerkschaften und Kirchen erleben ähnliches. Vor diesem Hintergrund des Niedergangs auch von Volkskirchen, wie meinen Sie, könnten Volksparteien revitalisiert werden?
Woelki: Ich finde, dass Volksparteien wichtig sind. Ich finde es schade, dass die SPD in dem Zusammenhang so schwach geworden ist. Und ich wünsche mir, dass sie wieder erstarken kann. Dazu ist es notwendig, dass klare Positionen vertreten werden, dass sich eine CDU klar profiliert und nicht ähnlich in diese Mitte und in diese Themenbereiche hineinschwenkt, die vor allen Dingen auch in der Vergangenheit von den Sozialdemokraten besetzt worden sind.
Ich glaube, dass das unserer Demokratie insgesamt gut tun würde, weil dann in beiden großen Parteien, die Grünen mit eingeschlossen, würde ich sagen, und die FDP natürlich auch, weil dann in diesen großen Volksparteien Platz ist für unterschiedliche Anschauungen und Auffassungen und dass eine Breite innerhalb der Volksparteien gegeben ist.
Das ist ja immer die Stärke unserer Demokratie gewesen, dass es auch innerhalb solcher Parteien zu einem politischen Diskurs gekommen ist, wo man miteinander gerungen hat, wo der Kompromiss gesucht worden ist. Und wo dann im Grunde genommen aber für das Gesamte der Gesellschaft ein guter Kompromiss in der Vergangenheit gelebt werden konnte.
Main: Immer mehr Parteien in deutschen Parlamenten, das spiegelt ja auch wider, was sich in der Gesellschaft ereignet. Mal ganz simpel gefragt, wie ergeht es Ihnen, wenn Sie mit Freunden oder Bekannten oder im Kollegenkreis zusammensitzen, reden Sie dann noch über Politik - oder kommt es bei Ihnen dann auch immer häufiger zum Streit?
Woelki: Nein, wir reden über Politik. Es kommt natürlich zu unterschiedlichen Auffassungen, aber das ist ja auch gut, das zeichnet eine Demokratie aus. Und ich finde, dass der gegenseitige Respekt, das Ringen um eine politische Meinung, dass das das Entscheidende ist. Und dann muss natürlich auch an einem Wertesystem entsprechende Lösung gefunden werden - und da gibt es unterschiedliche Prägungen.
Es gibt Prägungen, die natürlich von den Werten unseres Grundgesetzes her bestimmt sind. Es sind die Werte, die glaubende Menschen mit einbringen - und sicherlich auch Werte, die Menschen einbringen, die sich als Agnostiker oder als Atheisten entschieden haben, zu leben. Das heißt ja nicht, dass diese Menschen keine Werte haben, sondern ebenfalls häufig sehr hohe, am Humanum ausgerichtete Werte haben und dass die in einen Diskurs miteinander gebracht werden. Schlimm ist es dort, wo der Respekt fehlt, wo Ausgrenzung betrieben wird, wo Polarisierung betrieben wird, wo man nicht mehr miteinander spricht.
"Es fehlt an Wissen über das, was wir als Christen glauben"
Main: Die Brüche, die wir hier gerade beschreiben, die finden ja wohl auch Ausdruck in den aufgeheizten Religionsdebatten unserer Tage, die oft bar jeder Kenntnis geführt werden. Welche verbalen Abrüstungsstrategien für diese hysterischen Religionsdebatten schlagen Sie vor?
Woelki: Also, ich glaube, dass grundsätzlich jede Religion zunächst einmal ausgerichtet ist, das Gute im Menschen hervorzurufen, für den Frieden und den Erhalt des Friedens zu arbeiten. Und es ist immer in der Geschichte der Menschheit so gewesen, dass Religionen missbraucht worden sind und instrumentalisiert worden sind für bestimmte politische Interessen.
Insofern glaube ich, ist es entscheidend, dass wir uns gegenseitig kennenlernen. Unser Problem besteht ja zum Beispiel darin, dass weite Teile der Bevölkerung unseren christlichen Glauben gar nicht mehr richtig kennen. Dass wir zwar immer noch davon sprechen, wir seien eine christlich-abendländisch geprägte Gesellschaft, aber wenn man einmal genau nachfragt: Bis in den innersten Kern unserer Gemeinden hinein fehlt es manchmal an Wissen über das, was wir als Christen glauben. Wie viel mehr ist das etwa mit Blick auf den Islam.
Also, das Kennenlernen der eigenen Religion, das sich damit Identifizieren und das Leben der eigenen Religion hilft, dass Deutschland weiterhin ein christliches Land bleibt.
Main: Welche Kritik müssen Juden, Christen, Muslime aushalten - und welche Kritik möchten Sie nicht hören?
Woelki: Ich denke, dass wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben und deshalb müssen wir uns natürlich einem freiheitlich demokratischen Diskurs auch stellen. Wir müssen uns natürlich dort den Spiegel vor Augen halten lassen, wo wir als Kirchen, als Religionsgemeinschaften versagt haben, wo wir hinter unserem eigenen Anspruch, den uns der jeweilige Stifter mit auf den Weg gegeben hat, wo wir diesem Anspruch nicht gerecht werden. Insofern sind wir durchaus in einem Land, in einem freiheitlichen Land zu kritisieren. Ich finde, es muss natürlich irgendwie fair sein und es muss respektvoll sein, so wie wir insgesamt aber immer miteinander umgehen sollten.
Main: Kritik an Kirchen und am Islam kommt vor allem einerseits von ganz links, andererseits von der AfD. Die Haltung der Kirchen zur AfD ist umstritten. Wofür plädieren Sie, skandalisieren oder miteinander reden?
Woelki: Skandalisieren ist immer schlecht. Miteinander reden ist das Beste. Ich finde, dass es innerhalb des politischen Diskurses darum gehen muss, die AfD und ihre Denkmuster zu entlarven. Sie muss politisch bloßgestellt werden mit Blick auf ihr Menschenbild, mit Blick auf ihr Gesellschaftsbild. Dort, wo das gelingt, denke ich, wird man als guter Demokrat wissen, wo man seine politische Heimat findet und dass die Alternativen bei uns in Deutschland woanders liegen, jedenfalls nicht dort.
"Globalisierung hat den Menschen zu dienen"
Main: Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln, im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Herr Woelki, viele der innenpolitischen großen Themen, die wir gerade besprochen haben, sind verknüpft mit dem großen Ganzen, mit Weltpolitik. Inwiefern gehören Sie zu denen, die die Globalisierung verantwortlich machen für Nationalismus, für Identitätssehnsucht?
Woelki: Die Sehnsucht nach Identität, die ist natürlich uns Menschen eingestiftet. Wir müssen wissen, wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen wollen. Das ist unser Grundbedürfnis. Sonst können wir eigentlich nicht leben. Deshalb gehört natürlich Identität, deshalb gehört Beheimatung zu uns dazu. Auf der anderen Seite gehören wir zu einer großen Menschheitsfamilie.
Wir sind auf diesem einen Globus zusammengerückt. Es gibt keine Entfernungen mehr. Es gibt Echtzeitkommunikation durch die Digitalisierung. Keiner von uns möchte darauf verzichten. Keiner ist mehr bereit, sein Smartphone abzugeben. Jeder möchte wissen, was gegenwärtig in Amerika, in Afrika oder in Asien passiert.
Nein, ich finde diese Entwicklung gut. Aber auch hier gilt: Es hat der Mensch im Mittelpunkt zu stehen. Die Technik und eine Globalisierung hat den Menschen zu dienen - und nicht umgekehrt der Mensch einer Globalisierung oder der Technik. Dort, wo dieses Prinzip in den Mittelpunkt gestellt wird, glaube ich, können wir mit dem, wofür Globalisierung steht und Digitalisierung steht, gut leben.
"Nicht den einfachen Lösungen auf den Leim gehen"
Main: Wir sind beide nicht mehr jung, aber es ist in weltweites Phänomen, dass ältere Männer oder auch sehr alte Männer autoritär regieren. Wie erklären Sie sich die Krise der liberalen Demokratien? Sie haben mehrfach betont, wie wichtig Ihnen die Demokratie ist. Wohin könnte diese Entwicklung schlimmstenfalls führen?
Woelki: Ja, ich finde es sehr bedenklich und sehr schade, dass die liberale Demokratie scheinbar so in Misskredit geraten ist. Ich fürchte, dass das einfach damit zusammenhängt, dass wir uns so sehr daran gewöhnt haben. Also, wir gehören beide zu der Generation, die damit aufgewachsen ist, die Gott sei Dank nichts anderes kennengelernt hat, die Gott sei Dank eingebunden ist in eine europäische Staatengemeinschaft und die die Vorzüge einer europäischen Staatengemeinschaft und einer Friedensordnung hier genossen haben.
Und vielleicht haben wir uns doch so sehr auch daran gewöhnt, dass wir fast nur noch das Negative, das damit verbunden ist, sehen - wo viel Licht ist, gibt es eben auch Schatten - dass das jetzt auf einmal in den Mittelpunkt gestellt wird. Deshalb müssen wir unsere freiheitlichen demokratischen Grundordnungen stärken. Wir müssen das Positive herausstreichen. Wir müssen über das Positive sprechen und betonen.
Dass sich solche älteren Herren dann aufschwingen, Politik zu gestalten, hängt vielleicht dann doch auch damit zusammen, dass unsere globalisierte Welt, technisierte Welt natürlich sehr viel komplizierter geworden ist. Und die Menschen natürlich nach einfachen Lösungen verlangen und einfache Lösungen auch für ihr Leben gerne haben wollen. Aber einfach ist es in einer Demokratie eben nicht.
Wir dürfen diesen Rattenfängern, die da heute weltweit unterwegs sind, nicht auf den Leim gehen, nicht auf den Leim gehen einfachen Lösungen, sondern wir müssen uns mit Blick auf den Menschen um verantwortliche Lösungen auseinandersetzen, die errungen werden müssen, wo aber im Letzten immer Gerechtigkeit für alle im Mittelpunkt stehen muss.
Main: Nun dominieren weltweit nationalistische Töne. Sie, Kardinal Woelki, sind in leitender Funktion tätig in einer Kirche, die als katholische Kirche den Anspruch hat, weltumspannende Kirche zu sein. Katholizismus und Nationalismus vertragen sich nicht. Aber wie könnten Sie dies stärker kommunizieren? Müssten Sie das nicht stärker kommunizieren als katholische Kirche?
Woelki: Das versuchen wir. Das versuchen wir, natürlich auch zu leben. Wir sind international aufgestellt. Wir haben im Papst auch ein einheitliches oder ein einigendes Prinzip. Und wir machen, glaube ich, mit der Vielgestaltigkeit, die in unserer Kirche existiert, sehr, sehr gute Erfahrungen. Das macht gerade auch den Reichtum unserer Kirche aus.
Main: Die nationale Trennlinien per se transzendiert…
Woelki: Genau.
Missbrauch: "Eine schwere Schuld, die wir auf uns geladen haben"
Main: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk heute mit Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln. Herr Woelki, das Thema des vergangenen Jahres, mit dem die katholische Kirche hierzulande am stärksten medial präsent war, ist ein Thema, das Ihnen vermutlich schlechte Laune bereitet oder Sie einfach nur schmerzt: sexueller Missbrauch von Kindern durch kirchliche Mitarbeiter, zumeist Kleriker. Wie groß ist der Vertrauensverlust aus Ihrer Sicht als Folge sexualisierter Gewalt über Jahrzehnte hinweg?
Woelki: Immens natürlich! Und das ist wirklich etwas, was mich wieder mit tiefem Schmerz erfüllt, weil das, was da geschehen ist, zutiefst natürlich gegen das Evangelium und gegen die Botschaft steht, die wir von einem liebenden und barmherzigen Gott zu verkünden haben. Wenn Menschen diesen Auftrag, der ihnen gegeben ist, dazu missbrauchen, Verbrechen dieser Art auszuüben, dann ist das absolut verwerflich und durch nichts zu tolerieren. Und wir müssen natürlich auch eingestehen, dass wir viel zu lange Betroffenen nicht geglaubt haben, dass wir so etwas nicht für möglich gehalten haben und dass wir über das, was uns von Betroffenen gesagt worden ist, einfach hinweggegangen sind. Das ist eine schwere Schuld, die wir auf uns geladen haben.
Main: Dennoch sind die Anmeldezahlen an kirchlichen Kindergärten oder in Schulen oder in Internaten nicht eingebrochen. Korrigieren Sie mich, wenn ich da falsch liege. Ich frage trotzdem drastisch: Sind Kinder sicher, wenn sie von ihren Eltern etwa als Messdiener in die Obhut eines Priesters gegeben werden und dann eventuell alleine sind mit ihm in der Sakristei?
Woelki: Ja, sind sie. Ich stelle mich hinter den Großteil unserer Priester. Es sind Täter, die auch Priester sind. Aber ich muss doch einfach auch sagen, dass der Großteil der Priester und der pastoralen Mitarbeiter und der kirchlichen Angestellten eben nicht mit dem sexuellen Missbrauch zu tun hatten.
Wir haben bei uns in unserer Diözese und den anderen deutschen Diözesen, denke ich, auch, in den vergangen Jahren sehr stark an Präventionskonzepten gearbeitet. Wir haben hier in unserer Diözese einen Interventionsbeauftragten und haben in den vergangenen Jahren weit über 100.000 kirchliche Mitarbeiter, hauptberufliche und ehrenamtliche, geschult, um Sensibilität und Aufmerksamkeit für diese Thematik zu wecken.
Ich kann nicht ausschließen, dass so etwas passiert. Man muss ja, denke ich, auch wahrnehmen, dass sexualisierte Gewalt ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist. Ich will das nicht behaupten oder sagen, um uns selber freizusprechen. Ein einziger Fall in der Kirche ist hier zu viel, und wir haben hier auch aufgrund unseres moralischen Anspruchs eine besondere Verantwortung und auch eine besondere Schuld auf uns geladen. Das ist ganz klar!
Aber es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem; und ich bin sehr dafür, dass wir diese Problematik jetzt auch gesamtgesellschaftlich angehen um der Kinder und der Jugendlichen willen. Es darf nirgendwo sexualisierte Gewalt geben, nicht in der Kirche, erst recht dort nicht - aber auch in keinem anderen gesellschaftlichen System.
Main: Einer ihrer Kollegen oder, wie Sie sagen würden, Mitbrüder, der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer, hat kürzlich in einem Interview gesagt: Machtmissbrauch im Kontext sexualisierter Gewalt stecke in der DNA der Kirche. Geht er zu weit?
Woelki: Auf jeden Fall. Ich kann dieses Bild nicht teilen. Denn wenn das so ist, dann müsste ich aus der Kirche austreten. Wenn das Böse also gleich der Struktur der Kirche eingestiftet ist, dann müsste auch der Staat jedenfalls gleich handeln und eigentlich das, was Kirche ist, verbieten. Ich glaube, dass das Bild nicht ganz stimmig ist. Nein, es steckt nicht in der DNA der Kirche.
Ökumene: "Es gibt Unterschiede, die essenziell sind"
Main: Kardinal Woelki, Sie hatten eine Kontroverse mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, mit Reinhard Marx, was den Kommunionempfang konfessionsverschiedener Ehepartner betrifft. Dieser Streit scheint beigelegt. Wir müssen ihn jetzt hier nicht aufwärmen, aber Sie wirkten da wie jemand, der eher das Trennende der Konfessionen sieht. Was eint Katholiken und Protestanten?
Woelki: Also zunächst möchte ich sagen, dass wir keinen Streit miteinander hatten. Wir hatten unterschiedliche Auffassungen; und ich finde, dass das berechtigt ist, innerhalb der Kirche solche unterschiedlichen Auffassungen auszutragen. Insofern sind und bleiben wir Mitbrüder und sind und bleiben wir eins. Das ist das Eine.
Was uns eint, ist natürlich der gemeinsame Glaube an Jesus Christus und das gemeinsame Bekenntnis - Protestanten und Katholiken und Orthodoxe und orientalische Christen. Und diesen Glauben gilt es, in einer säkularen Gesellschaft, hier bei uns in westlicher Prägung, miteinander zu leben, zu bezeugen. Das heißt aber eben nicht, dass es keine Unterschiede gibt, sonst müssten wir die Konfessionen nicht weiter aufrechterhalten.
Es gibt Unterschiede, die essenziell für uns sind, etwa mit Blick auf das Priestertum, mit Blick auf das Sakramentenverständnis, mit Blick auf die sakramentale Struktur der Kirche. Und ich bin sehr dafür, dass wir ökumenisch verbunden miteinander unterwegs sind. Aber es muss ein Dialog der Wahrhaftigkeit sein, ein Dialog der Liebe sein - und wir können nicht Dinge vorwegnehmen und eine Einheit simulieren, die so theologisch noch nicht gegeben ist.
Main: Kardinal Woelki, Sie sind Vorsitzender der Kommission für Wissenschaft und Kultur in der Deutschen Bischofskonferenz, sozusagen der Wissenschaftsminister der Bischöfe. Ich nenne mal ein paar Namen: Karl Rahner, Herbert Vorgrimler, Johann Baptist Metz, Joseph Ratzinger, Hans Küng, Theologen mit Wumms und Strahlkraft. Lang ist es her. Wer und was ist verantwortlich für den Bedeutungsverlust katholischer Theologie?
Woelki: Ja, das ist sicherlich auch geschuldet, dass wir als Kirche einer Säkularisierung unterworfen sind, dass wir natürlich nicht mehr über so viele Christen auch verfügen, die selber Theologie und Philosophie studieren und dass uns da natürlich dann die brillanten Köpfe fehlen. Weil damals die Theologen, die Sie gerade benannt haben, auch unter dem Gros der Theologen herausragend waren. Aber sie konnten eben herausragen, weil es sehr viele waren, die Theologie studierten - und das ist heute eben nicht. Aber ich glaube schon, dass wir auch heute noch ganz gute Theologen haben.
Main: Kardinal Woelki, lassen sie uns abschließend zurückblicken auf dieses merkwürdige Jahr 2018. Es war ein Jahr der Dürre in Deutschland - oder positiv gewendet ein Jahrhundertsommer. Ihr Lieblingsverein, der 1. FC Köln, ist in die Zweite Liga abgestiegen. Es hat keine schweren Terroranschläge gegeben hierzulande. Was wird bleiben von diesem Jahr aus Sicht des Kölner Kardinals, für Sie persönlich auch?
Woelki: Ja, sicherlich der massive Vertrauensverlust, den wir als Kirche erlitten haben, dieser furchtbare Missbrauchsskandal. Das ist etwas, was uns sicherlich sehr belasten wird. Es wird sicherlich auch bleiben, dass wir weltpolitisch und national so disparat geworden sind, dass sich unsere Gesellschaft spaltet, dass der Ton in unserer Gesellschaft rauer geworden ist und rauer wird. Dass wir uns weiter auseinander separieren, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern leider auch in Europa.
Das wird, glaube ich, die große Herausforderung sein für 2019: Dass wir uns wieder auf das besinnen, was uns in den vergangenen 70 Jahren doch so stark gemacht hat und geschenkt worden ist, dass es eben das gemeinschaftliche demokratische Element ist, das uns Frieden und Wohlstand hier in Europa beschert hat.
Weihnachten: "Das Fest, das für Mitmenschlichkeit steht"
Main: Für Christen steht das Weihnachtsfest vor der Tür. Ohne jetzt hier predigen oder verkünden zu wollen: Was wird der Kernsatz oder der Kerngedanke Ihrer diesjährigen Weihnachtspredigt sein?
Woelki: Ja, mich hat beeindruckt und auch beunruhigt, dass in Großbritannien ein Ministerium für Einsamkeit installiert worden ist. Das hat mich irgendwie nicht losgelassen. Und die Weihnachtsbotschaft ist eigentlich für mich, dass wir nicht einsam sind. Wir sind hier nicht irgendwie als Menschen auch einsam in dieses Weltall hineingesetzt, sondern: Gott ist mit uns. Er ist der Immanuel - und das wird Weihnachten gefeiert. Er kommt und er hat für uns Menschen ein Angebot, was uns, wenn wir daraus leben, glücklich und zufrieden sein lässt.
Main: Und jemandem, der sich nicht für Weihnachtsbotschaften im christlichen Sinne interessiert, weil er agnostisch ist oder einer anderen Konfession zugehörig, was empfehlen Sie denen, damit diese Festtage, die vor uns liegen, gelingen?
Woelki: Ich finde, dass Weihnachten auf jeden Fall das Fest ist, das für Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit steht. Religiös würde ich eben, wie gesagt, sagen: Gott wird Mensch, und würde von daher eine Begründung eben ableiten. Aber dass wir uns alle unseres Menschseins besinnen sollen und dass es das ja auch ist, was uns miteinander verbindet, unser Menschsein, das kann, glaube ich, auch für Agnostiker und Atheisten etwas sein. Zu Weihnachten innezuhalten und den Anderen in den Blick zu nehmen und ihn mit einem guten Wort, einem guten Blick, einer helfenden Hand oder vielleicht sogar mit einem schönen Geschenk zu erfreuen. Das lässt ja eigentlich das Herz eines jeden Menschen, unabhängig von seinem Glauben und unabhängig von seiner Grundeinstellung, erfreuen und froh machen. Einfach im Blick eines anderen zu sein - das lässt leben.
Main: Innehalten und Menschlichkeit, Kardinal Woelki, dann hoffen wir mal, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht. Danke für das Gespräch und Ihnen ein wunderbares Weihnachtsfest.
Woelki: Danke, das wünsche ich Ihnen und allen Hörerinnen und Hörern auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.