Wer denkt, unsere Gegenwart sei utopiearm und visionslos, wird überrascht sein.
Im Zentrum des Essays steht die Zukunft - allerdings nicht als das, was tatsächlich einmal kommen wird, sondern als Erzählung. Denn so sehr bemängelt wird, dass unserer Gegenwart die großen Utopien fehlen, so sprudelnd sind die Visionen davon, wie Zukunft aussehen soll: Künstliche Intelligenz, Digitalisierung der Lebenswelt, Mensch-Maschine-Verknüpfungen, die Ausdehnung der Lebenszeit bis hin zur Unsterblichkeit, die Besiedelung neuer Planeten: Dies sind Plots, mit denen Zukunft heute erzählt wird. Und es sind Plots, die davon berichten, was sich Menschen schon immer unter Zukunft vorgestellt haben. Zukunft ist eine Fiktion, die offenbart, wie sich Menschen ihre Gegenwart durch Erzählungen vom Kommenden erschließen. Der Beitrag zeigt, wie tief aktuelle Vorstellungen von der Zukunft in der Vergangenheit verwurzelt sind - und wie wichtig das Erzählen von der Zukunft für gesellschaftliche, soziale und persönliche Identifikation ist.
Daniel Hornuff, geboren 1981, vertritt die Professur für Theorie und Praxis der Gestaltung an der Kunsthochschule in der Universität Kassel. Nach Magisterabschluss 2007 und Promotion 2009 folgte 2013 die Habilitation mit einer Schrift zur Kultur- und Designgeschichte der Schwangerschaft. Er hatte zahlreiche Lehraufträge inne und publiziert regelmäßig zu Themen der Kultur-, Design- und Zeitgeschichte.
Die Relevanz von "Zukunft" und "Heimat"
Kaum ein politisches Statement, in dem es nicht um die "Zukunft Deutschlands" oder um die "Zukunft Europas" ginge, in dem nicht darauf verwiesen wird, dass wir "in die Zukunft investieren", dass wir "Zukunft gestalten müssen", dass wir sogar "fit werden sollten für die Zukunft", in dem nicht an "zukünftige Generationen" erinnert und "Zukunft als gewaltige Herausforderung" charakterisiert wird, in dem also nicht von der "Zukunft als dem wichtigsten aller Projekte" gesprochen wird - ein Projekt freilich, das nur gelingen kann, wenn die ultimative Schlüsselqualifikation unserer Tage zum Tragen kommt: Die sogenannte "Zukunftsfähigkeit".
Zukunft als Fähigkeit - darauf muss man erstmal kommen! Denn so wenig zu bestreiten ist, dass Menschen über bestimmte Fähigkeiten verfügen, so klar ist auch, dass Zukunft immer unverfügbar bleibt. Wie also soll man etwas können, auf das es gar keinen Zugriff gibt? Anders gefragt: Was genau kann der zukunftsfähige Mensch, die zukunftsfähige Partei, das zukunftsfähige Unternehmen, die zukunftsfähige Wissenschaft?
Vollends absurd wird die Sache, wenn die "Zukunftsfähigkeit" zur "Zukunftskompetenz" aufgeplustert wird. Dies geschieht nicht nur im Bereich der Business-Coaches und Lebensratgeber - sondern vor allem auch im Bildungssektor! Zukunft als Kompetenz gilt dann als Universalformel für alle irgendwie anstehenden Aufgaben. Wer Inhaber einer Zukunftskompetenz ist, muss im Grunde nichts Spezifisches mehr können. Denn schlicht alles, was man irgendwie mal können sollte, dürfte durch eine Zukunftskompetenz ja bereits abgedeckt sein. Was früher einmal das Universalgenie gewesen sein soll, scheint heute durch den Zukunftskompetenten ersetzt.
So drängt sich ein bedrückender Verdacht auf: Scheinbar wollen alle etwas können, das niemand können kann - weil das, was man können möchte, überhaupt nicht zu können ist. Dabei spielt es keine Rolle, aus welcher gesellschaftlichen Richtung der Wunsch nach einem solchen Können kommt. Ob die etablierte Politik oder das Cottbuser Anti‑Asylbündnis, ob eine Konzernchefin oder ein Kulturwissenschaftler von der Zukunft als einer Kompetenz sprechen: Jeweils bleibt sie ein Widerspruch in sich selbst.
Umso mehr wird damit aber deutlich: Zukunft ist der Bereich, der weder direkt noch indirekt zu erlangen ist. Niemand kann sich die Zukunft auch nur halbwegs verbindlich aneignen. Gleichwohl ist sie immer anwesend. Vielfach bestimmt sie unser Denken und alltägliches Handeln. Sie beeinflusst Entscheidungen, egal, ob es sich um lebensprägende oder vermeintlich nebensächliche handelt. Fließt uns die Zukunft daher entgegen - und wir müssen nur warten, bis wir in sie hineingespült werden?
Wie erleben Menschen die Zeit?
Wer sich die Zeit als strömenden Fluss denkt, gerät in ein Dilemma, mit dem sich bereits der große Kirchenlehrer und Philosoph Augustinus zum Ende des 4. Jahrhunderts konfrontiert sah. Er stellte fest, dass das Vergangene nicht mehr da ist und dass das Zukünftige noch nicht da ist - sodass selbst die Gegenwart zwischen diesen beiden jeweils abwesenden Zeiten zerrinnt. Wie aber erleben Menschen die Zeit und deren Zeiten, wenn sie diese nicht unmittelbar erfassen können? Augustinus antwortet, indem er die Seele ins Spiel bringt. Allein in der Seele fänden die drei Zeiten ihren Platz: Die Vergangenheit vergegenwärtige sich als Erinnerung, die Gegenwart erschließe sich durch Anschauung und die Zukunft liege in unseren Erwartungen.
Daraus folgt, dass die Unterschiede zwischen Vergangenheit und Zukunft deutlich kleiner ausfallen, als man geneigt ist zu glauben. So ist etwa der Blick in die Vergangenheit - die Erinnerung also - ähnlich stark vom Heute geprägt wie unsere Erwartung an die Zukunft. Was uns hier wie dort als wichtig erscheint, gibt ebenso Auskunft über unsere derzeitigen Vorlieben, Wertpräferenzen, Gewohnheiten, Konventionen und Routinen. Geschichte ist erzählte Vergangenheit, basierend auf Fakten, Dokumenten, Zeugnissen. Doch indem wir diese Materialien zueinander in Beziehung setzen, indem wir sie bewerten und ihnen Bedeutung zuweisen, eignen wir uns Vergangenheit durch unser Bild von Gegenwart an. Somit wandelt sich Geschichte im Laufe der Zeit, auch dann, wenn sich die Zeugnisse der Geschichte nicht verändern.
Zukunftsentwürfe
Ähnlich verhält es sich mit der Zukunft. Zwar gibt sie uns keine derart belastbaren Dokumente an die Hand wie die Vergangenheit; und dennoch ist es unsere je aktuelle Erwartungshaltung, die die Zukunft zu bestimmen sucht. Ideen von Zukunft verraten im Grunde nichts über die Zukunft als solche. Aber umso mehr zeigen diese Ideen an, welche Stellung wir uns in der Gegenwart zuweisen, ja sogar, wie wir heute und morgen leben wollen. Zukunft fasziniert, weil es nie so recht gelingen mag, die Gegenwart hinreichend zu begreifen. In all ihrer Widersprüchlichkeit bleibt sie offen und letztlich unbestimmbar.
Somit erhält die Zukunft den Charakter einer Erzählung. Sie ist Fiktion im besten Sinne: fiktiv im Sinne des Erdachten, des Ersonnenen, des Imaginierten und Erdichteten. Bei der Zukunft, schreibt die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Eva Horn treffend, müssten wir immer bedenken: Es handelt sich lediglich um "aktuelle Entwürfe des Zukünftigen".
Und tatsächlich wäre Zukunft als Entwurf nicht so dominant in unserer Zeit, wenn sie ein bloßes Nebenthema bliebe. Besonders klar wird dies beim Blick auf den Zukunftsentwurf der Neuen Rechten: Ihr Zukunftsentwurf ist einer, der nach Wurzeln in einer glorifizierten Vergangenheit sucht. Ausgelebt wird eine anrührend-kindische Auffassung von Geschichte: Die Zukunft möge sich als Wiederbelebung eines einst goldenen, inzwischen aber verfallenen Zeitalters zu erkennen geben. Jean-Jacques Rousseaus "zurück zur Natur" avanciert zum polit‑romantischen Programm - ein Programm, das schlicht zu mutlos ist, um sich den oft schmerzlichen Widersprüchen einer immerzu ungewissen Gegenwart zu stellen. Was sich bei der Neuen Rechten mit Blick auf die Zukunft aggressiv gebärdet, ist nichts anderes als ein regressiver Schub: Ich will zurück ins Ganze, weil ich nicht im Stande bin, mit den spannungsvollen Fragmenten meiner Gegenwart umzugehen.
Die Tragik einer solchen Auffassung von Geschichte liegt auf der Hand: Wer im Vergangenen nach dem Ganzen wühlt, um es der Zukunft wiedereinzupflanzen, wird schon bald erkennen müssen, dass auch dieses Vergangene und seine vermeintliche Ganzheit nichts anderes als eine Erzählung gewesen waren. Daher gelingt es auch dem Totalitarismus nicht, die Unverfügbarkeit der Zukunft in seine Gewalt zu zwingen. Selbst Autokraten bleiben Kinder ihrer Zeit.
Wir gehen Erzählungen nicht auf den Leim
Sollten wir uns also generell von den Erzählungen verabschieden, um uns in Zukunft den wirklich wichtigen Dingen widmen zu können? Diese Frage kann nur bejahen, wer den Sinn für Erzählungen verloren hat - und sich stattdessen in einer Haltung der Bekenntnisse, der Dogmen und Ideologien einrichtet. Wer die Erzählungen aus der Welt schaffen möchte, verkennt ihre lebenspraktische Bedeutung: Erzählungen erweisen sich als sinnstiftend, gerade weil sie als Erzählungen erfahrbar werden.
Mit anderen Worten: Der Unterschied zwischen Täuschungen und Erzählungen liegt darin, dass wir Erzählungen nicht auf den Leim gehen. Menschen lassen sich gerne und vielfach von Erzählungen gefangen nehmen. Wir sind sehenden Auges bereit, uns in ihnen zu versenken. Denn im Unterschied zum Getäuschtwerden ist dies ein Eintauchen, das sich seiner Bedingungen bewusst ist.
Übertragen auf die Zukunft heißt das: Wenn wir von der Zukunft erzählen, lassen wir uns gerade deshalb auf sie ein, weil wir um ihre Vorläufigkeit wissen. Zukunft fesselt, weil sie als Entwurf lesbar ist - mit der nicht unerheblichen Folge, dass sich derjenige, der von der Zukunft erzählt, in der Rolle des Entwerfers erleben kann. Mag der Blick in die Vergangenheit noch ein Gefühl des Hingehaltenseins, der Passivität erzeugen, so scheint die Zukunft erst recht form- und gestaltbar.
Wer also besonders eifrig von der Zukunft erzählt, fühlt sich bestärkt und ermächtigt. Und er neigt dazu, sich gegenüber anderen als fortschrittlich abzugrenzen. Dann aber verrät sich die Erzählung von der Zukunft als Geste der Überlegenheit: Der eigenen Zeit scheinbar voraus, wähnt man sich als Vorhut. Plötzlich wirken die Zeitgenossen rückständig und im Vergangenen verhaftet - wohingegen der Zukunftserzähler für sich in Anspruch nimmt, den Weg der Avantgarde eingeschlagen zu haben. Man erzählt von der Zukunft - und wünscht sich, als autonom und unvergleichbar aufzufallen.
Zukunftsplots in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Darin liegt der Hauptgrund, warum Zukunft ein so umkämpftes Feld geworden ist. In einer Gesellschaft, die Individualität, Wettbewerb, Fitness und Leistungsbereitschaft als maßgebliche Werte auslegt, kann sich die Erzählung von der Zukunft zur Glaubensformel verengen: Erzähle nicht nur von der Zukunft, sondern bekenne dich zu ihr!
So geistert bereits das Schreckgespenst einer drohenden Zukunftsvergessenheit durch öffentliche Debatten. Bloß nicht die Zukunft aus den Augen verlieren! Keine Gelegenheit verpassen, die Zukunft emphatisch zu beschwören! Immer zukunftserregt bleiben - dies predigen all diejenigen, die ein quasi-religiöses Verhältnis zur Zukunft entwickelt haben, um sich als führende Gestalter der Gesellschaft empfehlen zu können.
Besonders deutlich werden diese Selbstverständnisse in den großen Erzählfabriken unserer Zeit. Gemeint sind die selbsternannten Trend- und Zukunftsinstitute, die sich anschicken, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die Plots zu präsentieren, aus denen sich Zukunft zusammensetzen soll. Gerne sprechen sie von Mega- und Supertrends. Diese zeichneten sich bereits in der heutigen Gesellschaft ab, ihre durchschlagende Wirkung sei allerdings erst für die Zukunft zu erwarten. So professionalisiert sich das Erzählen von der Zukunft mit dem Ziel, dieses Erzählen als ein ökonomisch verwertbares Produkt in Umlauf zu bringen.
Müssen wir "Digitalweltmeister" werden?
Woraus aber bestehen die Plots? Was sind ihre Inhalte? Und wovon handeln sie? Auffällig ist, dass solche Erzählungen meist um nur wenige Schlagworte kreisen. Derzeit beispielsweise exzessiv um das Schlagwort Digitalisierung. Zwar kann im Grunde kein Mensch präzise angeben, was genau mit der Digitalisierung erzählt werden soll - ob es denn nun um die Digitalisierung bislang analoger Daten, um die Online-Abwicklung von Prozessen oder die bloße Bereitstellung von Hardware geht. Doch liegt genau darin der Grund, warum sich Digitalisierung als absoluter Joker‑Begriff festsetzen konnte.
Entsprechend kurz ist der Weg von der Zukunftskompetenz zur Digitalkompetenz. Wer zukunftsfähig sein wolle, so das Credo, komme ohne Digitalkompetenzen nicht aus. Da fraglich bleibt, was unter Digitalisierung gefasst werden soll, wird erst recht unscharf, welche konkreten Fähigkeiten eine Digitalkompetenz beinhalten müsse. Das allerdings hält nicht wenige davon ab, die ultimative Idiotie unserer Tage zu fordern: dass die Deutschen nicht nur digitalkompetent, sondern endlich auch "Digitalweltmeister" werden müssten. Im Nebel der Begriffswolken stochernd, einigt man sich auf global-hegemoniale Visionen: Lieber rasch Weltmeister werden, als sich der Mühsal der Definitionsarbeit zu unterziehen.
Um Missverständnissen klar vorzubeugen: Digitale Technologien prägen unsere Zeit so stark wie keine andere Kulturtechnik - und digitale Praktiken werden eine noch viel größere Bedeutung für sämtliche Formen der politischen Beteiligung, der sozialen Kommunikation, persönlichen Identifikation und bürgerschaftlichen Organisation spielen. Diese Entwicklungen im Geiste kritischer Reflexion mit aller Kraft zu fördern, gehört zu den unabdingbaren Aufgaben. Doch gerade deshalb ist es so problematisch, wenn die Erzählung von der digitalen Zukunft zum bloßen Bekenntnisritual zerfällt. Dann nämlich geht es nicht um Partizipation, sondern um Indoktrination: Im Erzählen des Immergleichen droht eine Verdrängung anderer und anders gelagerter Erzählungen.
Deutlich wird immerhin, aus welchem Holz solche Erzählungen geschnitzt sind: Sie wiederholen eine typisch westliche, von der industriellen Moderne angeheizte Sehnsucht. Es ist die Sehnsucht nach idealerweise unerschöpflichen Ressourcen, die nur darauf warten, in Verwertungskreisläufe überführt zu werden. Je indefiniter diese Ressourcen bleiben, desto ertragreicher scheint ihr mögliches Potenzial. Eine zu scharfe Definition würde ihren Möglichkeitsraum begrenzen - und damit die suggestive Wirkung einer solchen Erzählung von Zukunft schwächen.
Die Erzählung von der Künstlichen Intelligenz
Dies mag auch der Grund sein, warum die Programme fast aller politischen Parteien dazu tendieren, Definition durch Proklamation zu ersetzen. Nahezu durchgängig erzählen sie im Duktus des Appells: Digitalisiert die Schulen und Hochschulen! Digitalisiert das Kranken- und Medizinwesen! Stellt endlich die öffentliche Verwaltung auf Digitalisierung um! Macht bitte auch die Sozialarbeit auf die Vorteile der Digitalisierung aufmerksam! Und bereitet vor allem jedes Unternehmen auf die Folgen der Digitalisierung vor - sofern sich das Unternehmen nicht bereits selbst digitalisierend der Digitalisierung öffne. Es ist einmal mehr die Schwammigkeit des Begriffs, die es erlaubt, Zukunft als ein System aus Gewinnern und Verlierern zu imaginieren.
Allerdings weist die Digitalisierung bei allen rhetorischen Vorteilen einen entscheidenden Nachteil auf: Ihrer Erzählung fehlt das dramatische Gewicht, und es mangelt ihr an tragischer Abgründigkeit. Wer nicht digitalisiere, werde nach der Logik des Plots zwar irgendwie abgehängt; aber er fällt nicht ins Bodenlose einer schicksalhaften Verstrickung. Dafür bleibt der Digitalisierungsplot zu sehr in der Abstraktion der Daten hängen. Für dramatische Zuspitzungen eignen sich daher andere Stoffe. Beispielsweise die Erzählung von der Künstlichen Intelligenz.
Diese fungiert als eine Art Fortsetzungsroman zur Digitalisierung. Die Digitalisierung habe das Feld bereitet, und nun übernehme die Künstliche Intelligenz. Die Hauptfiguren dieser Erzählungen sind denn auch weniger menschlicher denn maschineller Natur. Ein Strang dieser Erzählungen steuert darauf zu, die Maschine als die wichtigste Akteurin unserer Zukunft zu präsentieren. So geht es beispielsweise immer wieder um autonome Fahrzeuge unterschiedlichsten Typs, die durch intelligente Strukturen zu eigenständigen Entscheidungen fähig seien - und somit auch über moralische Qualifikationen verfügen sollten.
Demnach hat sich das ethische Dilemma eigenständiger Transportmittel als neue Groß- und Meistererzählung unserer Tage etabliert: Für welches Opfer würden sich solche Maschinen entscheiden, wenn sie in unausweichlichen Unfallsituationen einzig zwischen fatalen Folgen wählen könnten? Sind Maschinen überhaupt für ihr Handeln zur Rechenschaft zu ziehen? Wie verhält sich unser Justizsystem, wenn es darum geht, über die rechtlichen Belange einer maschinellen Intelligenz zu urteilen? Müssten dann nicht eher Maschinen über Maschinen richten, weil diese über Intelligenzen verfügen, die nur durch maschinelle Verfahren bewertbar sind?
Und was passiert, wenn ein paar Super-Maschinen bereits Vorsorge gegen ihre Abschaltung getroffen haben? Welche Folgen stehen zu befürchten, wenn diese Maschinen ihre Entscheidungskraft in politische Ambitionen umsetzen, um gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen? Droht eine Diktatur der Maschinen, die alles Nicht-Maschinelle vernichtet? Führen wir dann Krieg gegen Maschinen, von denen wir viel zu lange geglaubt haben, sie begnügten sich mit der Rolle des Dieners?
Ersichtlich wird, wie packend die Erzählung von der Zukunft auszugestalten ist, wenn diese Zukunft mit der Geburt der Künstlichen Intelligenz verbunden wird. Eine Fiktionslust wird durch apokalyptische Szenarien aufgeladen - sodass dystopische Elemente zu dominieren beginnen. Der Berater und Trendforscher Matthias Horx spricht denn auch von einer regelrechten "Übertreibungssucht ins Negative", von einem sogenannten "Immerschlimmerismus". Horx dazu:
"Das Schlechtmachen der Welt dient oft der eigenen seelischen Kohärenz: Man möchte seine innere Unruhe mit der Welt in Einklang bringen. Negative Zukünfte haben großen Aufmerksamkeitswert und versprechen unbedingte Deutungsmacht."
In der Tat geht es bei diesen Erzählungen immer wieder darum, sie für eigene Interessen einzuspannen. Das Erzählen von der Zukunft ist beileibe kein unschuldiger Akt. Vielmehr wird bereits durch die Wahl des Themas und die Art des Erzählens dem eigenen Machtanspruch Geltung verschafft. Er zeigt sich immer dann, wenn es darum geht, Zukunft durch eigene Deutung verbindlich prägen zu wollen.
Und wo es um Geltungsansprüche geht, ist unfreiwillige Komik nicht weit. Jüngst kam ein Hamburger Startup-Unternehmen auf die Idee, mithilfe Künstlicher Intelligenz die Erfolgswahrscheinlichkeit von Buchmanuskripten zu ermitteln. Die sogenannte "Bestseller-DNA", eine "Software zur Vorhersage von Bucherfolgen", soll dazu dienen, die Markttauglichkeit von Manuskripten zu prüfen. Grundlage sei eine Maschine, die mit tausenden Bestsellern gefüttert werde, um deren typische Muster kennenzulernen. In der Folge untersuche die Maschine, inwiefern diese Merkmale im eingesandten Text anzutreffen sind, um schließlich benennen zu können, mit welcher Auflagenzahl nach Veröffentlichung zu rechnen sei.
Die Ironie dieses Versprechens liegt auf der Hand - und sie ist von philosophischer Dimension: Denn offenbar führt hier eine bestimmte Fiktion von Künstlicher Intelligenz dazu, dass andere Fiktionen auf ihre Verwertbarkeit hin untersucht werden. Wir haben es also mit einer lupenreinen Meta-Erzählung zu tun: Das Startup präsentiert eine Erzählung, die vom zukünftigen Erfolg anderer Erzählungen erzählt.
Gleichwohl ist es ein Irrglaube zu meinen, aktuelle Erzählungen von der Zukunft setzten sich einzig aus Maschinen-Plots zusammen. Neben technologischen Settings existiert eine ganze Reihe an Erzählungen, die den Menschen ins Zentrum rücken. Zur Erinnerung: Nicht wenige charakterisieren unser gesamtes Zeitalter als eines, das durch den sogenannten Anthropozän gekennzeichnet sei. Mit ihm verbindet sich die Vorstellung, dass der Mensch zum entscheidenden Faktor globaler Prozesse aufsteige - im Positiven wie Negativen. So werde es ihm etwa zunehmend möglich, direkten Einfluss auf natürliche und sogar atmosphärische Entwicklungen auszuüben.
Das Narrativ der Unsterblichkeit
Es scheint sogar, als werde die Karriere der technologischen Visionen von einer Karriere anthropologischer Visionen begleitet. Je dominanter die eine in Erscheinung tritt, desto lauter artikuliert sich die andere. Neben die technologische Dystopie tritt somit eine anthropologische Utopie.
Besonders schwungvoll erzählen einige Unternehmen aus dem Silicon Valley von dieser Utopie. Ihr Ziel könnte ambitionierter nicht sein: Sie berichten davon, den Alterungsprozess des Menschen aufhalten und ihm in Zukunft sogar die Schmach des Todes ersparen zu können. Es geht um nichts Geringeres als um das Narrativ der Unsterblichkeit, darum, den Menschen über seine biologischen Grenzen hinauszuführen. Am Ende dieser Entwicklung soll der ideale Unternehmer stehen: Ideal im Sinne einer totalen intrinsischen Motivation, ein Unternehmer, der befreit ist von allen Sorgen eines nahenden Endes - und der somit seine gesamte Kraft in die Durchsetzung seines Unternehmens einbringen könne.
Entsprechende Biotech-Startups schießen wie Pilze aus dem Boden. Die profiliertesten Gründer und CEOs der Technologie-Branche investieren mit höchstem Einsatz in diese Erzählungen: Tesla-Chef Elon Musk, Jeff Bezos von Amazon, Oracle-Gründer Larry Ellison oder die Google-Chefs Larry Page und Sergey Brin sind nur einige der Prominentesten, die die Verjüngungs- und Unsterblichkeitsprojekte mit Millionen- und gar Milliardenbeträgen befeuern. Heraus sprießen Zukunftslabore, die mit Bluttransfusionen, biogenetischen Eingriffen und der sogenannten Kryonik experimentieren. Diese gehört mit ihrem Verfahren der Kryostase gewiss zu den schrillsten Erzählungen unserer Zeit, wenn es darum geht, von der Zukunft als einem Sieg über die Biologie zu berichten.
Der Kryonik-Plot besteht darin, Menschen nach ihrem Ableben in flüssigem Stickstoff einzufrieren, um eine möglichst hohe Zahl an Zellen über den Tod hinaus erhalten zu können. Da aber das bloße Schockfrosten eines Toten nur bedingt attraktiv für den Betroffenen sein dürfte, wird ihm ein ultimatives Versprechen gegeben: Sobald der medizinische Fortschritt in der Lage sei, konservierte Zellen zu neuem Leben zu erwecken, hole man den Verstorbenen aus seinem Kühlgefäß heraus, um ihm eine zweite Lebenszeit zu ermöglichen. In dieser Erzählung reduziert sich der Tod zur bloßen Aus- und Wartezeit, zu einem ausgedehnten Sabbatical vom Leben. Die in Aussicht gestellte Wiederauferstehung folgt dabei keiner christlichen Mystik, sondern ist in einem wilden Biologismus fundiert. Man müsse nur lange genug warten - irgendwann sei schließlich alles möglich. Und wofür lohne sich ein solches Warten, wenn nicht für das Leben selbst?
Damit wird endgültig klar: Erzählungen von der Zukunft wiederholen Bilder von der Zukunft, die bereits Teile unserer Vergangenheit prägen. Der Claim der Digitalisierung - hallen in ihm nicht die Hoffnungen und Befürchtungen nach, die bereits den gesamten Prozess der Industrialisierung in all seinen Stufen durchziehen? Jener Fortschrittsoptimismus, der sich an jedem neuen Automatisierungsschub bestätigt sah - und der stets begleitet war von mindestens ebenso umfassenden wie berechtigten Sorgen?
Und die Erzählung von der Künstlichen Intelligenz: Ist sie nicht mindestens so alt wie das Denken über, mit und in Maschinen, so alt also, wie der Mensch in Maschinen eigene Handlungsformen erkennen will? Ihre eindeutig nachweisbaren Wurzeln findet die Künstliche Intelligenz in der Aufklärungseuphorie des 18. Jahrhunderts - wobei auch damals auf ungleich ältere Vorstellungen zurückgegriffen worden ist. Denn die Idee, dass das gesamte Universum nach einer mechanischen und somit künstlich-intelligenten Logik aufgebaut sein könnte, diese Idee ist so alt wie das Denken der Menschen selbst.
Und schließlich der Plot, der davon erzählt, den Tod zu überwinden: Er gehört zur anthropologischen Konstante der menschlichen Spezies. Seit Menschen den Blick auf ihr eigenes Ende richten, arbeiten sie daran, dieses Ende in ihre Verfügungsgewalt zu bringen. Die megalomanischen Visionen aus dem Silicon Valley sind die indirekten Erben jener Mediziner, die unter Lenin am Projekt des unsterblichen Menschen herumgedoktert haben. Bis hinein in die Technik der Bluttransfusion wiederholt sich demnach, was ehemals bereits versucht worden war. Prägnant fasst dies der Autor Nils Markwardt, wenn er schreibt:
"Völlig unterschiedliche Zeiten, Orte und Systeme, aber das gleiche Phantasma, die gleichen Methoden. […] Der Geist des kalifornischen Tech-Kapitalismus lässt sich erst vollständig verstehen, wenn man ihn vor der Folie seines kommunistischen Pendants liest."
Ohne Zweifel: Zukunft ist ein umkämpftes Feld. Und gerade daher darf dieses Feld nicht jenen überlassen werden, die von der Zukunft nur deshalb erzählen, um ihr Lieblingsbild von der Vergangenheit wieder aufhängen zu können. Das Feld darf aber auch nicht jenen überlassen werden, die mit erhabenem Stolz Dystopien entfesseln oder in Utopien schwelgen. Was es bräuchte, wäre ein Wille zur Zukunft jenseits aller Extreme. Eine wünschenswerte Zukunft liegt somit einzig in der Vielfalt ihrer Erzählungen. Denn wer diese Vielfalt beschneidet, verbiegt die Zukunft zur bloßen Ideologie. Wer sie hingegen fördert, hält alle Wege offen - und beweist damit wahre Zukunftsfähigkeit!
Erstsendedatum 17.03.2019