Beatrix Novy: Herr Reiter, jeder Polizist, der drei Zeugen nach einem Auffahrunfall vernimmt, weiß, dass er unter Umständen drei Geschichten zu hören kriegen wird. Unsere Erinnerungen sind verdächtig; sie werden, das wissen wir seit einiger Zeit, von unserem eigenen Gehirn geschönt, verfälscht, neu montiert, vermischt, sogar usurpiert - ist das Gehirn ein mieser Verräter?
Marcus Reiter: Das ist erstens richtig. Unser Gehirn ist fast so etwas wie ein Foto Shop. Was wir uns irgendwie versuchen zu merken, das wird dann, wenn wir es wieder aufrufen, wenn wir versuchen, uns zu erinnern, neu zusammengesetzt. Es wird ergänzt durch das, was wir später gelernt haben. Aber evolutionsbiologisch ist das ja durchaus sinnvoll, denn es geht ja nicht darum, dass irgendeine steinzeitliche Polizei ein Verhör führt und dann der Jagdunfall genau so, wie er war, rekonstruiert wird, sondern unser Gehirn war eigentlich dafür da, dass diese Erinnerungen zusammen mit anderen Erfahrungen uns zum Beispiel vor Gefahren warnen.
"Unsere Wahrnehmung ist bereits selektiv"
Novy: Was wäre denn eine Möglichkeit, sich korrekt zu erinnern, wenn man das nun will?
Reiter: Gar nicht. Sie werden die Chance nicht haben, sich korrekt zu erinnern - es sei denn, Sie zeichnen das, was Sie gesagt haben, auf, oder Sie filmen das. Aber es ist nicht möglich, eine absolut korrekte Erinnerung herbeizuführen.
Das hat ja auch verschiedene Gründe. Der erste ist, dass unsere Wahrnehmung bereits selektiv ist. Das heißt, wir nehmen ja alles gar nicht wahr, was auf uns zukommt, sondern wir selektieren. Dann wird das Ganze im Arbeitsgedächtnis gespeichert. Vom Arbeitsgedächtnis wird es dann zum Beispiel in den Hippocampus - das ist ein bestimmter Teil des Gehirns - weiterverlagert. Und dann, vor allen Dingen in der Nacht, während wir schlafen, konsolidieren sich die Erinnerungen, und das bedeutet, es werden Dinge auch wieder weggeschafft, wirklich entsorgt, während andere Erinnerungsteile verstärkt werden. Und am Ende haben wir eine neue Erinnerung, und wenn wir die dann irgendwann mal wieder aufrufen, dann wird sie, wie eben gesagt, ergänzt durch neue Erfahrungen, neue Erinnerungen, vielleicht was wir im Fernsehen mal gesehen haben, was wir gehört, was wir gelesen haben, was wir erzählt bekommen, was wir uns vielleicht nur vorgestellt haben. Das heißt, es ist letztlich für unser Gehirn nicht möglich, eine absolut korrekte Wiedergabe herbeizuführen.
Novy: Hat dieses Entsorgen - das Stichwort haben Sie eben genannt - damit zu tun, dass das Gehirn eine Grenze erreicht hat in seiner Aufnahmefähigkeit und deswegen was wegschaffen muss, damit es nicht zu voll wird?
Reiter: Es gibt eigentlich keine Leistungsgrenze für das Gehirn. Aber es ist absolut sinnvoll, dass wir uns nicht an alles erinnern, weil wir dadurch erst Muster erkennen können. Es gibt einen berühmten Fall eines russischen Journalisten, Solomon Schereschewski, der konnte nicht vergessen. Der hat sich an alles erinnert. Wenn Sie den vor zehn Jahren gesehen hatten und mit ihm gesprochen hatten, konnte der zehn Jahre später noch jedes Wort wiedergeben und auch, welchen Pullover Sie an hatten. Dieser Mann litt entsetzlich darunter, weil er im Grunde Muster nicht daraus hervorkristallisieren konnte, sondern abhängig war von den wirklich einzelnen Erinnerungen.
Dass Sie Dinge vergessen, ist ja auch hilfreich. Wenn Sie heute ins Fitness-Studio gehen und einen bestimmten Spind haben, in den Sie Ihre Sportklamotten reintun, dann ist es gut, wenn Sie die Sportklamotten wieder abgeholt haben am Abend, wenn Sie vergessen haben, in welchen Spind Sie das getan haben, weil es hat ja keinen Sinn, sich zu erinnern, in welchen Spind Sie vor sieben Wochen mal Ihre Klamotten eingesperrt haben.
"Wir schaffen uns unsere Identität durch unser Gedächtnis"
Novy: Unsere Erinnerungen formen aber unsere Identität, zumindest ist das unsere Vorstellung. Und wenn unser Gedächtnis stolpert, erfährt das Ich ja ständig kleine Verfälschungen. Hat das irgendeine Funktion?
Reiter: Ja, wir schaffen uns unsere Identität durch unser Gedächtnis. Das ist ja der eigentliche Hintergrund. Das heißt: Dadurch, dass wir uns an bestimmte Dinge erinnern, wie wir uns an bestimmte Dinge erinnern, wie wir uns an bestimmte Dinge erinnern beispielsweise im Zusammenhang mit unseren moralischen Werten, das schafft unsere Identität. Es gibt zum Beispiel Menschen, die irgendwann etwa in die NSDAP eingetreten sind und dann angeblich oder wirklich vergessen haben, dass sie es getan haben. Man sagt dann immer, die lügen, aber das muss nicht so sein. Es kann auch schlichtweg sein, dass unser Gedächtnis das entsorgt hat, weil es mit unseren späteren moralischen Werten nicht in Übereinklang zu bringen war.
Novy: Was bedeutet das denn eigentlich für die Memoiren-Literatur? Ich meine jetzt nicht die romanhafte autobiographische, gefärbte Kunst - die hat auch Kunstfreiheit -, sondern die Memoiren-Literatur, die Geschichte mitschreibt?
Reiter: Im Grunde ist das das gleiche. Die gefärbte, veränderte, künstlerisch gestaltete oder mehr oder weniger künstlerisch gestaltete Memoiren-Literatur von Politikerinnen und Politikern, von irgendwelchen Personen der Zeitgeschichte ist genauso geformt, und zwar zum Teil natürlich absichtlich, weil man sich in einem besonderen Licht darstellen möchte, aber auch unabsichtlich aufgrund der Verzerrungen unseres Gedächtnisses. Es gibt zum Beispiel einen Fall - ich glaube, das war Hillary Clinton, die sich genau zu erinnern glaubte, dass sie als Außenministerin in irgendeinem Krisengebiet war und da unter Beschuss war. Es stellte sich später heraus anhand der Fakten, dass das nie so war, und es wurde ihr, was unter den heutigen Gesichtspunkten vielleicht fast eine Petitesse ist, Lüge vorgeworfen. Aber das muss nicht so sein. Es kann auch einfach sein, dass sie abgespeichert hat, es war eine extrem gefährliche Situation. Es gibt einen bestimmten Teil unseres Gehirns, die Amygdala, die Gefahr auch erkennt und dann unsere Erinnerungen, wenn es scheinbar gefährlich war, prägt. Und sie hatte dann wirklich das Gefühl, unter einer Bedrohungssituation zu sein, und dann mit Erfahrungen, die sie vielleicht irgendwo gesehen, gehört hatte, nahm sie einfach an, es sei Beschuss gewesen, obwohl der vielleicht gar nicht stattfand.
"Lügen ist eine schwierige kognitive Aufgabe"
Novy: Das heißt, fehlerhaftes Erinnern kann man eigentlich gar nicht unter eine moralische Prämisse stellen?
Reiter: Nein. Sie können natürlich bewusste lügen unter eine moralische Prämisse stellen, wenn man weiß, dass man lügt und dass das, was man sagt, …
Novy: Aber das weiß nur der Lügner selbst.
Reiter: Das weiß der Lügner selbst. Es gibt inzwischen einige neurowissenschaftliche Methoden, die mit einem gewissen Grad an Sicherheit erkennen können, ob jemand bewusst lügt, weil Lügen ist ja eine schwierige kognitive Aufgabe, erfordert bestimmte kognitive Leistungen, die in bestimmten Arealen des Gehirns geleistet werden müssen, und man kann an den Aktivierungsmustern des Gehirns dann erkennen, wenn jemand bewusst lügt.
Was man nicht kann, jedenfalls bisher noch nicht, ist festzustellen, ob jemand unbewusst lügt, das heißt seiner Erinnerung wirklich glaubt und diese dann wiedergibt, und das spielt durchaus eine wichtige Rolle. Denken Sie an die vielen Fälle des Vorwurfs von sexuellem Missbrauch. Da kann sowohl auf Täter- als auch auf Opferseite es durchaus zu Verzerrungen der Erinnerung gekommen sein.
Novy: Die Oral History hat ja im 20. Jahrhundert einen großen Stellenwert in der Geschichtswissenschaft bekommen - ist sicherlich auch nicht verlässlich, aber es geht ja hier um kollektives Erinnern. Wie stellen sich denn Historiker auf dieses Faktum ein, dass alles, was sie zu hören bekommen, nur bedingt verlässlich ist?
Reiter: Für Historiker, für seriöse Historiker, die sich mit der Oral History beschäftigen, sind die Erinnerungen, die Zeitzeugen geben, eher ein Ausweis dafür, wie zum Beispiel kollektiv oder individuell bestimmte Ereignisse gedeutet werden. Was sie auf keinen Fall sind, sind die Wiedergabe der Fakten. Dafür muss man auf andere Quellen zurückgreifen. Aber auch das ist ja durchaus interessant, dass man sagt, wie beispielsweise sich eine kollektive Erinnerung herstellt. Das gilt ja nicht nur für einzelne Personen, diese Verfälschung von Erinnerung; das gilt ja für ganze Nationen, für Gruppen. Unser Geschichtsblick, unser Blick auf die Geschichte - man spricht ja heute von Narrativ - ist letztlich nichts anderes als eine fotogeshopte Erinnerung eines Kollektivs.
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