O-Ton Helmut Kohl: "Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation."
Bettina Klein: Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 in Dresden. Die Mauer war noch keine eineinhalb Monate offen, die Menschen in Ost und West noch völlig unter dem Eindruck dieser historischen Ereignisse. Heute wird der Altkanzler als Kanzler der Einheit gefeiert, heute Abend zum Beispiel auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung, aber damals waren durchaus nicht alle seiner Meinung.
Ja, Angela Merkel wird sprechen. Die Frau, die sich einst so klar von ihrem politischen Mentor gelöst hatte, wird heute eine Rede auf diesen halten. In dieser Woche erinnert die CDU an den Beginn der Regierungszeit von Helmut Kohl vor 30 Jahren und bindet den Europäer in diesen Krisen- und Wahlkampfzeiten wieder gern an sich.
Im Studio in Dresden begrüße ich Lutz Rathenow, Schriftsteller und Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Sachsen. Guten Morgen, Herr Rathenow!
Lutz Rathenow: Guten Morgen.
Klein: Nicht wenige Oppositionelle waren damals gegen die deutsche Einheit, wir haben gerade den O-Ton von Helmut Kohl gehört. Sie wollten jedenfalls einen anderen Weg als den, den der Kanzler damals eingeschlagen hat. Sie auch?
Rathenow: Nein, ich gehörte zu denen, die eigentlich über eine linke Deutschland-Politik damals auch schon schrieben, im Oktober und November. Das Wort "Links" hatte ich doch sicherheitshalber eingefügt, um mich nicht zu sehr zu isolieren von der Mehrheit der Bürgerbewegten, die sich das eigentlich nicht praktisch vorstellen konnten. Da haben Sie schon Recht.
Klein: Sie haben über linke Deutschland-Politik geschrieben. Was haben Sie geschrieben?
Rathenow: Ja, dass das die beste von allen schwierigen Möglichkeiten wäre, die DDR schon zu entsorgen und zu beseitigen. Also ich finde, dass die Haltung, das Handeln von Kohl schon eine gewisse Entschlussgenialität in diesem Zeitraum – später hat er dann auch ein paar Fehler gemacht – beinhaltet. Er hat mit großem Entscheidungsinstinkt genau das getan, was in der Situation getan werden konnte, und hat eine Wiedervereinigung angestrebt, offiziell vertreten, die dann ja im Grunde eine Neuvereinigung war – in Grenzen, die es vorher nie gab. Also im Grunde ist der dritte Weg beschritten worden, der Weg zu einem neu vereinigten Deutschland.
Klein: Er hat ein kleines historisches Fenster genutzt, so wissen wir heute. Weshalb haben das nicht so sehr viele außer ihm gesehen, dass die Möglichkeit, die deutsche Einheit herzustellen wie auch immer, vielleicht nicht mehr allzu lange bestehen würde?
Rathenow: Die Mehrheit der DDR-Bürger, die ihn dann gewählt hat in der Wahl, hat das vielleicht nicht gesehen, aber sie hat das gespürt und geahnt, denn sie wollte mit Kohl das Prinzip Zuverlässigkeit, das Prinzip Westen. Die West-Lethargie, die unter Kohl auch in vielen Kreisen der Bundesrepublik ja reflektiert worden ist, die war sozusagen: da fiel im Osten dann doch genügend frischer Wind und Systemwechsel. Man wollte dieses Prinzip haben und man hat sich für die historischen Hintergründe schon interessiert.
Es fehlten auch die Kenntnisse. Es fehlte zum Beispiel die Kenntnis, wie sehr die Sowjetunion bereit ist, schon aus finanziellen Gründen nicht mehr die DDR an der Backe zu haben. Die Wismut brachte keine radioaktiv verwertbaren Stoffe mehr, die DDR kostete mehr als sie brachte, man wollte sie los werden, darüber gibt es heute eindeutige Fakten, diese Fakten standen damals nicht alle zur Verfügung.
Klein: Schauen wir mal auf die 80er-Jahre, eine Zeit im Westen Deutschlands, in der Helmut Kohl umgangssprachlich von vielen "Birne" genannt wurde. Viele, die nicht Anhänger der Regierung waren, sprachen doch relativ abschätzig über ihn. Wie war das nach Ihrer Wahrnehmung, Ihrer Erinnerung im Osten Deutschlands, jetzt mal jenseits der offiziellen Propaganda?
Rathenow: Das war sehr unterschiedlich. Es gab in der DDR keine Einheitsmeinung. Es gab verschiedene politische Gruppen und Schichten, die das verschieden reflektierten. Ich denke, eine schweigende Mehrheit in Thüringen, in Sachsen, vielleicht auch in Sachsen-Anhalt war im Grunde immer für das Westprinzip und Kohl stand dafür. Er stand genauso dafür wie zum Beispiel die Schweizer Regierung, die niemand kennt, für das Prinzip einer funktionierenden Demokratie steht. Gerade seine Unauffälligkeit machte das aus, dass von so jemand nichts Bedrohliches ausgeht.
In unseren Kreisen der Bürgerbewegung wurde er kritisch bis gleichgültig kritisch reflektiert im Wesentlichen. Ich hatte auch schon Kontakte zu einzelnen Politikern der CDU, zum Beispiel Uwe Lehmann-Brauns, den ich in der ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin traf, die machten eine sehr gute Arbeit, und da passierte etwas Merkwürdiges. Helmut Kohl war schon lange an der Regierung und immer, wenn man dort zu Empfängen war, traf man nur auf Menschen, die ganz offensiv die SPD-Politik und die künftigen möglichen SPD-Spitzenpolitiker hochleben ließen und die besseren Politiker fanden, und die anderen, die offenbar von einer anderen Partei gekommen waren, die standen dann süffisant vielleicht mal am Rande eines Kreises und lächelten ein wenig im Ansatz. Ich habe nie in irgendeiner Form eine Werbung für die CDU gehört.
Vielleicht war diese Unauffälligkeit, dieses stillere Prinzip bis hin zu dieser Rede dann in Dresden, wo das ja ganz offen dann in die Öffentlichkeit getragen wurde, das wirksamere Prinzip. Und wenn man zu genau weiß, was man will, wie das Teile der politischen Linken dann vermeinten zu wissen, wie sich jetzt das alles entwickeln müsse, dann drückt man der anderen Seite eine Meinung auf - die CDU wirkte offenbar flexibler -, dann könnte man doch mal unterscheiden, ob in Thüringen, wo man Westradio und Westfernsehen empfing, die kritische Meinung zu Kohl nicht auch ein Reflex auf eine bereits eingesetzte Verwestlichung war, weil man sehr viele kritische Sendungen im politischen Bereich sah und diese auch diskutierte. Und da, wo man nichts davon sah, war er vielleicht das Symbol einer Hoffnung, wo es gar nicht um die Person ging.
Klein: Aber der Besuch von Honecker 1987 in Bonn mit Empfang auf dem Roten Teppich, Seit an Seit mit Helmut Kohl, kam auch nicht gut an bei vielen DDR-Bürgern.
Rathenow: Nein! Aber auch da gibt es ein Mix zwischen Hoffnung, vielleicht verbessert sich was, die Reisemöglichkeiten, es gab ja immer wieder Anzeichen, und gleichzeitig von Dingen, Durchsuchungen in der Erziehungskirche, in der Umweltbibliothek, Verhaftungen, die ganze Zeit Schikanen, verstärkte Schikanen der Staatssicherheit. Also dieses Doppelspiel, diese Doppelwirkung ist natürlich eine, wo ich sagen muss, dass natürlich auch Wahrnehmungsblockaden vorhanden waren auf allen Seiten. Jeder neigt dazu, immer so auf seiner Linie zu denken, und ich kann mich daran erinnern, dass ich 1986 in der "Zeit" einen langen Text veröffentlichte, "Fluchtbewegungen", zwei Seiten in der "Zeit", und eine Stelle wurde trotzdem rausgestrichen, wo ich für die Nichtanerkennung der DDR plädierte. Sicher wollte man mich schützen, um sich nicht zu kritisch an diesem Punkt zu äußern.
Klein: Herr Rathenow, wenn man sich zum Beispiel Kolumnen anschaut wie die von "Spiegel Online"-Autor Jakob Augstein, dann bekommt man schon den Eindruck, auch die Linke, auch die damalige Linke in Deutschland, die nicht viel mit Kohl anfangen konnte, ist inzwischen zu Kohl-Verehrern bekehrt. Wie erscheint Ihnen das?
Rathenow: Das erscheint mir als eine logische Annäherung an die Realität, wobei das Wort "Verehrung" ich jetzt für mich und auch für andere Teile nicht so unkommentiert gebrauchen würde. Er hat in seiner wesentlichen Situation vollkommen richtig gehandelt und hat dann auch in anderen, vielleicht für viele nicht ganz so wesentlichen Situationen dann auch Bürgerbewegte Oppositionelle enttäuscht, indem er mal seine Unlust am Öffnen der Stasi-Akten sehr deutlich artikulierte. Auch seine Klage zum Verschließen seiner Akten, was gar nicht nötig gewesen wäre, weil sie nichts wirklich Unangenehmes enthalten, sondern nur das Bild eines profilierten Politikers, wahrscheinlich verstärkt hätten, diese Klage hat zu Schwierigkeiten geführt bei der DDR-Aufarbeitung, die dann gerade sein Bild doch auch bei einigen Kreisen der Menschen, mit denen ich zu tun habe, wiederum etwas ambivalenter erscheinen lassen.
Klein: Herr Rathenow, schauen wir noch mal auf die Aktualität. Gestern wurde der Bericht zur deutschen Einheit vorgelegt und der zeigt, es gibt weiterhin ein Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West, es gibt weiterhin gravierende Unterschiede, auch wenn es die punktuell gibt – insofern, als es sozusagen in Kommunen oder Ländern im Westen teilweise schlechter aussieht. Aber im großen und ganzen besteht dieses Gefälle weiterhin, auch über 20 Jahre nach der deutschen Einheit. Wie haben Sie diese Meldungen aufgenommen?
Rathenow: Die Meldungen überraschen mich nicht, da die Realitäten an Probleme erinnern. Ich würde nur davor warnen, heute einfach das Wort Ost und West so zu gebrauchen, wie man es vor 20 Jahren gebrauchen musste. Es gibt Teile, Kommunen wie Jena, wie Dresden und andere Bereiche in Sachsen oder Thüringen, wo Dinge ziemlich vorzüglich laufen. Und es gibt Gegenden, die abgehängt worden sind. Und das Wohlstandsgefälle hat ganz verschiedene Gründe, die immer auch in vergangenen Gründen ihre Ursache haben und die natürlich das, was schwer läuft, immer schwerer zum Laufen bringen.
Heute ist für mich natürlich eine ganz aktuelle Frage, dass eine Gruppe von vielleicht zehn Prozent der Bevölkerung, die in der DDR zerbrochene Biografien hat, auch Erwerbsbiografien, aus politischen Gründen, aus teilpolitischen Gründen, mit den heutigen Entschädigungsregelungen oder den Nichtentschädigungsregelungen in eine Altersarmut zum Teil gestoßen werden, die sehr drastisch ist und die sie für ihren Widerstand oder ihren Ungehorsam in der DDR nun noch mal mit Renteneintritt bestraft, und solche Renten von 350 oder 400 Euro oder manchmal auch weniger, die drücken den Durchschnitt zum Beispiel im Rentenbereich riesig. Und das ist ein Problem, was jetzt erst richtig klar wird, denn damals die Erwerbsbiografien, 1990 von vielen DDR-Bürgern, wie die von meinem Vater, die ungebrochenen, die haben dann zu einer Rente geführt, die statistisch sehr gut war und die auch vollkommen zufrieden gemacht hat. Heute habe ich mit mehr unzufriedenen Leuten zu tun als damals in dem Bereich zum Beispiel.
Klein: …, sagt Lutz Rathenow. Er ist der Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen und nach wie vor Schriftsteller. Ich bedanke mich sehr für das Gespräch, Herr Rathenow.
Rathenow: Besten Dank! Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bettina Klein: Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 in Dresden. Die Mauer war noch keine eineinhalb Monate offen, die Menschen in Ost und West noch völlig unter dem Eindruck dieser historischen Ereignisse. Heute wird der Altkanzler als Kanzler der Einheit gefeiert, heute Abend zum Beispiel auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung, aber damals waren durchaus nicht alle seiner Meinung.
Ja, Angela Merkel wird sprechen. Die Frau, die sich einst so klar von ihrem politischen Mentor gelöst hatte, wird heute eine Rede auf diesen halten. In dieser Woche erinnert die CDU an den Beginn der Regierungszeit von Helmut Kohl vor 30 Jahren und bindet den Europäer in diesen Krisen- und Wahlkampfzeiten wieder gern an sich.
Im Studio in Dresden begrüße ich Lutz Rathenow, Schriftsteller und Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Sachsen. Guten Morgen, Herr Rathenow!
Lutz Rathenow: Guten Morgen.
Klein: Nicht wenige Oppositionelle waren damals gegen die deutsche Einheit, wir haben gerade den O-Ton von Helmut Kohl gehört. Sie wollten jedenfalls einen anderen Weg als den, den der Kanzler damals eingeschlagen hat. Sie auch?
Rathenow: Nein, ich gehörte zu denen, die eigentlich über eine linke Deutschland-Politik damals auch schon schrieben, im Oktober und November. Das Wort "Links" hatte ich doch sicherheitshalber eingefügt, um mich nicht zu sehr zu isolieren von der Mehrheit der Bürgerbewegten, die sich das eigentlich nicht praktisch vorstellen konnten. Da haben Sie schon Recht.
Klein: Sie haben über linke Deutschland-Politik geschrieben. Was haben Sie geschrieben?
Rathenow: Ja, dass das die beste von allen schwierigen Möglichkeiten wäre, die DDR schon zu entsorgen und zu beseitigen. Also ich finde, dass die Haltung, das Handeln von Kohl schon eine gewisse Entschlussgenialität in diesem Zeitraum – später hat er dann auch ein paar Fehler gemacht – beinhaltet. Er hat mit großem Entscheidungsinstinkt genau das getan, was in der Situation getan werden konnte, und hat eine Wiedervereinigung angestrebt, offiziell vertreten, die dann ja im Grunde eine Neuvereinigung war – in Grenzen, die es vorher nie gab. Also im Grunde ist der dritte Weg beschritten worden, der Weg zu einem neu vereinigten Deutschland.
Klein: Er hat ein kleines historisches Fenster genutzt, so wissen wir heute. Weshalb haben das nicht so sehr viele außer ihm gesehen, dass die Möglichkeit, die deutsche Einheit herzustellen wie auch immer, vielleicht nicht mehr allzu lange bestehen würde?
Rathenow: Die Mehrheit der DDR-Bürger, die ihn dann gewählt hat in der Wahl, hat das vielleicht nicht gesehen, aber sie hat das gespürt und geahnt, denn sie wollte mit Kohl das Prinzip Zuverlässigkeit, das Prinzip Westen. Die West-Lethargie, die unter Kohl auch in vielen Kreisen der Bundesrepublik ja reflektiert worden ist, die war sozusagen: da fiel im Osten dann doch genügend frischer Wind und Systemwechsel. Man wollte dieses Prinzip haben und man hat sich für die historischen Hintergründe schon interessiert.
Es fehlten auch die Kenntnisse. Es fehlte zum Beispiel die Kenntnis, wie sehr die Sowjetunion bereit ist, schon aus finanziellen Gründen nicht mehr die DDR an der Backe zu haben. Die Wismut brachte keine radioaktiv verwertbaren Stoffe mehr, die DDR kostete mehr als sie brachte, man wollte sie los werden, darüber gibt es heute eindeutige Fakten, diese Fakten standen damals nicht alle zur Verfügung.
Klein: Schauen wir mal auf die 80er-Jahre, eine Zeit im Westen Deutschlands, in der Helmut Kohl umgangssprachlich von vielen "Birne" genannt wurde. Viele, die nicht Anhänger der Regierung waren, sprachen doch relativ abschätzig über ihn. Wie war das nach Ihrer Wahrnehmung, Ihrer Erinnerung im Osten Deutschlands, jetzt mal jenseits der offiziellen Propaganda?
Rathenow: Das war sehr unterschiedlich. Es gab in der DDR keine Einheitsmeinung. Es gab verschiedene politische Gruppen und Schichten, die das verschieden reflektierten. Ich denke, eine schweigende Mehrheit in Thüringen, in Sachsen, vielleicht auch in Sachsen-Anhalt war im Grunde immer für das Westprinzip und Kohl stand dafür. Er stand genauso dafür wie zum Beispiel die Schweizer Regierung, die niemand kennt, für das Prinzip einer funktionierenden Demokratie steht. Gerade seine Unauffälligkeit machte das aus, dass von so jemand nichts Bedrohliches ausgeht.
In unseren Kreisen der Bürgerbewegung wurde er kritisch bis gleichgültig kritisch reflektiert im Wesentlichen. Ich hatte auch schon Kontakte zu einzelnen Politikern der CDU, zum Beispiel Uwe Lehmann-Brauns, den ich in der ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin traf, die machten eine sehr gute Arbeit, und da passierte etwas Merkwürdiges. Helmut Kohl war schon lange an der Regierung und immer, wenn man dort zu Empfängen war, traf man nur auf Menschen, die ganz offensiv die SPD-Politik und die künftigen möglichen SPD-Spitzenpolitiker hochleben ließen und die besseren Politiker fanden, und die anderen, die offenbar von einer anderen Partei gekommen waren, die standen dann süffisant vielleicht mal am Rande eines Kreises und lächelten ein wenig im Ansatz. Ich habe nie in irgendeiner Form eine Werbung für die CDU gehört.
Vielleicht war diese Unauffälligkeit, dieses stillere Prinzip bis hin zu dieser Rede dann in Dresden, wo das ja ganz offen dann in die Öffentlichkeit getragen wurde, das wirksamere Prinzip. Und wenn man zu genau weiß, was man will, wie das Teile der politischen Linken dann vermeinten zu wissen, wie sich jetzt das alles entwickeln müsse, dann drückt man der anderen Seite eine Meinung auf - die CDU wirkte offenbar flexibler -, dann könnte man doch mal unterscheiden, ob in Thüringen, wo man Westradio und Westfernsehen empfing, die kritische Meinung zu Kohl nicht auch ein Reflex auf eine bereits eingesetzte Verwestlichung war, weil man sehr viele kritische Sendungen im politischen Bereich sah und diese auch diskutierte. Und da, wo man nichts davon sah, war er vielleicht das Symbol einer Hoffnung, wo es gar nicht um die Person ging.
Klein: Aber der Besuch von Honecker 1987 in Bonn mit Empfang auf dem Roten Teppich, Seit an Seit mit Helmut Kohl, kam auch nicht gut an bei vielen DDR-Bürgern.
Rathenow: Nein! Aber auch da gibt es ein Mix zwischen Hoffnung, vielleicht verbessert sich was, die Reisemöglichkeiten, es gab ja immer wieder Anzeichen, und gleichzeitig von Dingen, Durchsuchungen in der Erziehungskirche, in der Umweltbibliothek, Verhaftungen, die ganze Zeit Schikanen, verstärkte Schikanen der Staatssicherheit. Also dieses Doppelspiel, diese Doppelwirkung ist natürlich eine, wo ich sagen muss, dass natürlich auch Wahrnehmungsblockaden vorhanden waren auf allen Seiten. Jeder neigt dazu, immer so auf seiner Linie zu denken, und ich kann mich daran erinnern, dass ich 1986 in der "Zeit" einen langen Text veröffentlichte, "Fluchtbewegungen", zwei Seiten in der "Zeit", und eine Stelle wurde trotzdem rausgestrichen, wo ich für die Nichtanerkennung der DDR plädierte. Sicher wollte man mich schützen, um sich nicht zu kritisch an diesem Punkt zu äußern.
Klein: Herr Rathenow, wenn man sich zum Beispiel Kolumnen anschaut wie die von "Spiegel Online"-Autor Jakob Augstein, dann bekommt man schon den Eindruck, auch die Linke, auch die damalige Linke in Deutschland, die nicht viel mit Kohl anfangen konnte, ist inzwischen zu Kohl-Verehrern bekehrt. Wie erscheint Ihnen das?
Rathenow: Das erscheint mir als eine logische Annäherung an die Realität, wobei das Wort "Verehrung" ich jetzt für mich und auch für andere Teile nicht so unkommentiert gebrauchen würde. Er hat in seiner wesentlichen Situation vollkommen richtig gehandelt und hat dann auch in anderen, vielleicht für viele nicht ganz so wesentlichen Situationen dann auch Bürgerbewegte Oppositionelle enttäuscht, indem er mal seine Unlust am Öffnen der Stasi-Akten sehr deutlich artikulierte. Auch seine Klage zum Verschließen seiner Akten, was gar nicht nötig gewesen wäre, weil sie nichts wirklich Unangenehmes enthalten, sondern nur das Bild eines profilierten Politikers, wahrscheinlich verstärkt hätten, diese Klage hat zu Schwierigkeiten geführt bei der DDR-Aufarbeitung, die dann gerade sein Bild doch auch bei einigen Kreisen der Menschen, mit denen ich zu tun habe, wiederum etwas ambivalenter erscheinen lassen.
Klein: Herr Rathenow, schauen wir noch mal auf die Aktualität. Gestern wurde der Bericht zur deutschen Einheit vorgelegt und der zeigt, es gibt weiterhin ein Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West, es gibt weiterhin gravierende Unterschiede, auch wenn es die punktuell gibt – insofern, als es sozusagen in Kommunen oder Ländern im Westen teilweise schlechter aussieht. Aber im großen und ganzen besteht dieses Gefälle weiterhin, auch über 20 Jahre nach der deutschen Einheit. Wie haben Sie diese Meldungen aufgenommen?
Rathenow: Die Meldungen überraschen mich nicht, da die Realitäten an Probleme erinnern. Ich würde nur davor warnen, heute einfach das Wort Ost und West so zu gebrauchen, wie man es vor 20 Jahren gebrauchen musste. Es gibt Teile, Kommunen wie Jena, wie Dresden und andere Bereiche in Sachsen oder Thüringen, wo Dinge ziemlich vorzüglich laufen. Und es gibt Gegenden, die abgehängt worden sind. Und das Wohlstandsgefälle hat ganz verschiedene Gründe, die immer auch in vergangenen Gründen ihre Ursache haben und die natürlich das, was schwer läuft, immer schwerer zum Laufen bringen.
Heute ist für mich natürlich eine ganz aktuelle Frage, dass eine Gruppe von vielleicht zehn Prozent der Bevölkerung, die in der DDR zerbrochene Biografien hat, auch Erwerbsbiografien, aus politischen Gründen, aus teilpolitischen Gründen, mit den heutigen Entschädigungsregelungen oder den Nichtentschädigungsregelungen in eine Altersarmut zum Teil gestoßen werden, die sehr drastisch ist und die sie für ihren Widerstand oder ihren Ungehorsam in der DDR nun noch mal mit Renteneintritt bestraft, und solche Renten von 350 oder 400 Euro oder manchmal auch weniger, die drücken den Durchschnitt zum Beispiel im Rentenbereich riesig. Und das ist ein Problem, was jetzt erst richtig klar wird, denn damals die Erwerbsbiografien, 1990 von vielen DDR-Bürgern, wie die von meinem Vater, die ungebrochenen, die haben dann zu einer Rente geführt, die statistisch sehr gut war und die auch vollkommen zufrieden gemacht hat. Heute habe ich mit mehr unzufriedenen Leuten zu tun als damals in dem Bereich zum Beispiel.
Klein: …, sagt Lutz Rathenow. Er ist der Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen und nach wie vor Schriftsteller. Ich bedanke mich sehr für das Gespräch, Herr Rathenow.
Rathenow: Besten Dank! Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.