Als der Erdbeobachtungssatellit Landsat-7 am Mittag des 20. Septembers 2002 über den Kolka-Gletscher an der russisch-georgischen Grenzen flog, schien alles in Ordnung. Doch am Abend passierte es: "Da hat er sich abgeschert, er ist kollabiert."
Um 20.08 Uhr, das verraten seismische Aufzeichnungen, riss der Kolka-Gletscher ab. Ein mehr als anderthalb Kilometer langes Gletscherstück raste mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 150 Kilometern pro Stunde zu Tal. So beschreibt es Andreas Kääb von der Universität Oslo.
"Die Spitzengeschwindigkeiten sind höher. Und das haben wir vor allem rekonstruiert aus Kurvenüberhöhungen, also wenn diese Masse sich so in die Kurve legt und dann den Berghang rauf rutscht und runter. Und da kommen wir auf Spitzengeschwindigkeiten von 250 bis 300 Stundenkilometern, also das ist ein ICE in voller Fahrt."
Ein einmaliges Ereignis?
Innerhalb von sechseinhalb Minuten schossen mehr als 130 Millionen Kubikmeter Eis und Fels rund 18 Kilometer vor - und zwar in einem Gelände mit eher geringem Gefälle. Bis dahin war dieses Phänomen unbekannt gewesen. Die Glaziologen hielten es deshalb für ein einmaliges Ereignis.
"Dann ist so etwas sehr Ähnliches gleich an zwei Gletschern auf dem Tibet-Plateau passiert, 2016, und erst ab dann hat man realisiert: 'Oi, das ist vielleicht etwas, was nicht nur in diesem einen Gletscher im Kaukasus passiert, sondern öfter.' Mittlerweile wissen wir das vielleicht von 15 Gletschern weltweit. Und das könnten schon mehr sein."
Auf der Suche nach der Ursache des Kollaps
Dass einige wenige Gletscher nicht immer "ruhig" vor sich hin fließen, ist seit langem bekannt - vor allem aus Alaska, aus Island und Tibet, aber auch aus den Alpen. Bei diesen Gletschern steigert sich plötzlich die Fließgeschwindigkeit um das zehn- bis tausendfache auf ein paar Meter am Tag: Sie galoppieren - oder surgen, wie es im Fachjargon heißt. Doch gegen einen Kollaps ist das nichts.
"Vor einem surgenden Gletscher können Sie davonlaufen, vor einem kollabierenden Gletscher können sie nicht davonlaufen. So einfach ist das."
Anders als ein surgender Gletscher verliere ein kollabierender vollkommen seine Bodenhaftung, erklärt der Glaziologe. Der Gletscher rutscht als Ganzes ab, zerfällt, donnert als gewaltige Lawine ins Tal und reißt dabei alles an Schutt und Fels mit, was ihm im Weg liegt.
Weicher Untergrund wirkt wie Schmierseife
Bei der Suche nach der Ursache hat sich bislang nur ein Faktor heraus kristallisiert, der allen kollabierenden Gletschern gemeinsam ist, erklärt Andreas Kääb.
"Eine Randbedingung, die erfüllt sein muss, ist offenbar, nach derzeitigem Stand des Wissens, dass sie auf sehr feinen Material, so Lehm, Silt, also bröselige Geologie ringsherum, liegen. Dass der Untergrund an sich relativ wenig Haftung bietet im Vergleich zu Gletschern, z.B., die auf wirklich massivem Fels liegen."
Der Untergrund wirkt also wie Schmierseife. Im Einzelfall könnten dann noch unterschiedliche Faktoren als Auslöser hinzukommen. Beim Kolka-Gletscher wäre das ein naher, ruhender Vulkan, der vielleicht eine heiße Quelle unter dem Gletscher speist.
"Auslöser kann ganz zufällig sein"
In Tibet könnte tauender Permafrost eine Rolle spielen, bei anderen Ereignissen kommen als Auslöser starke Regenfälle in Frage oder Erdbeben. Die einzige Konstante über alle bekannten Fälle hinweg ist jedoch der weiche Untergrund.
"Aus der Gefahrensicht oder aus dem Risiko-Management ist eigentlich die Auslösung selber gar nicht so entscheidend. Der Auslöser, das kann auch ganz kurzfristig, zufällig sein, plötzlich mal ein starker Gewitterregen an einer Stelle. Das lässt sich fast nicht vorhersehen. Wichtig ist eigentlich zu erkennen, welche Gletscher dazu neigen."
Und der Kolka-Gletscher ist schon wieder stark angewachsen. Während sich manche Gletscher nur schwer von ihrem Kollaps zu erholen scheinen, ist sein Bett schon wieder zu mehr als einem Drittel aufgefüllt.
"Dann haben die Leute uns erzählt, dass es das einzige Tal ist, oder eines der wenigen Täler im Kaukasus, wo die Dörfer nicht im Talboden sind, sondern auf den Hügeln oben. Und dann haben auch die russischen Kollegen noch ausgegraben, dass so was da schon mal passiert ist. Sogar das Datum war bekannt."
Und zwar geschah es am 3. Juli 1902. Genau 100 Jahre vor dem jüngsten Ereignis.