Gerd Breker: Nach einer Definition der Europäischen Union gilt als armutsgefährdet, wer mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung auskommen muss. Aus Berechnungen der statistischen Ämter der Länder und des Bundes geht hervor: Ostdeutsche sind stärker von Armut betroffen als Westdeutsche. Der Paritätische Gesamtverband hat nun einen Armutsatlas erstellt, der erstmals die regionale Verteilung von Armut in Deutschland zeigt - mit teilweise drastischen Ergebnissen. Der Bericht wurde heute vorgestellt. Am Telefon bin ich nun verbunden mit Bernhard Emunds. Er ist Leiter des Nell-Breuning-Instituts an der Hochschule St. Georgen in Frankfurt. Guten Tag, Herr Emunds.
Bernhard Emunds: Guten Tag, Herr Breker.
Breker: In Zeiten der Wirtschaftskrise, in denen die Politik sogenannten systemrelevanten Banken und Betrieben mit Milliardensummen unter die Arme greift, ist Armut in Deutschland zugleich bittere Realität. Ist das ein Skandal?
Emunds: Das ist ganz sicher ein Skandal, weil Armut im Einkommen bedeutet zugleich Armut in der Beteiligung an der Gesellschaft, bedeutet Ausschluss aus gesellschaftlichen Aktivitäten. Besonders krass ist das natürlich bei Kindern. Da kann man feststellen, dass Kinder, die in Haushalten mit wenig Einkommen groß werden, doppelt so häufig Probleme in der sozialen Entwicklung und in der kognitiven Entwicklung haben. Das ist natürlich eine extreme Chancenungleichheit.
Breker: Wir liegen in Deutschland, haben wir eben gehört, insgesamt bei einer Quote von 14,3 Prozent. Sind das alarmierende Zahlen?
Emunds: Ja. Alarmierend sind natürlich vor allen Dingen die Zahlen, die heute vorgestellt wurden, mit Blick auf die regionale Verteilung der Armut. Das heißt, es gibt wirklich Regionen, die zu abgehängten Regionen werden, und das heißt, bei denen wir von der Forderung des Grundgesetzes nach Vergleichbarkeit der Lebensbedingungen weiter denn je sind.
Breker: Das heißt, Politik hält sich nicht ans Grundgesetz, oder kann die Politik da gar nichts tun?
Emunds: Na ja, die Politik hat natürlich die Entwicklung hin zu mehr Armut in unserer Gesellschaft mit beschleunigt. Es gibt andere Faktoren wie die Globalisierung der Wirtschaft, wie auch eine Schwäche der Gewerkschaften, aber die Politik hat natürlich in den Jahren vor der Krise ganz klar auf eine wirtschaftsliberale Politik der Kostenersparnis, auf eine wirtschaftsliberale Politik der Deregulierung gesetzt, und das bezieht sich auch auf die Regionen. Das heißt, es wurde ja offiziell dann auch das Ziel vergleichbarer Lebensbedingungen in Frage gestellt.
Breker: Ist Armutsbekämpfung heute eigentlich noch ein ernst zu nehmendes Politikziel, oder sind die Menschen, die arm sind, nicht systemrelevant?
Emunds: Im Moment drängt sich natürlich erst mal auf, dass wir unwahrscheinlich viel Geld in die Hand nehmen, um System-Risiken im Bereich des Finanzsystems in den Griff zu kriegen. Das bedeutet natürlich zugleich, dass man das ständige Jammern, das wir jetzt über Jahrzehnte hatten, dass kein Geld da ist für sozialstaatliche Ausgaben, natürlich auch durchaus erst mal relativieren muss. Pater von Nell-Breuning hat schon vor 20 Jahren sehr deutlich gesagt, wenn etwas gewollt ist, dann ist auch Geld dafür da, und wir müssen feststellen, dass offenbar in den letzten 20 Jahren Geld da war oder hätte da sein müssen und man eben doch nicht die Ausgaben getätigt hat.
Breker: Wir haben heute gelernt, dass Ostdeutschland stärker betroffen ist als Westdeutschland. In Mecklenburg-Vorpommern liegt die Zahl bald bei einem Viertel der Menschen. Was sagt uns die Tatsache, dass der Osten stärker bedroht ist als der Westen, über die Ursachen der Armut?
Emunds: Ganz klar ist natürlich, dass ein großes Phänomen für Ostdeutschland die vergleichsweise schlechte wirtschaftliche Entwicklung in diesem Bereich ist, und wir müssen dazu nehmen, dass diese schlechte wirtschaftliche Entwicklung einher ging mit einer sehr geringen Tarifbindung der Unternehmen in diesen Ländern und mit auch sehr schlechten Tarifabschlüssen, sofern die Gewerkschaften überhaupt eben zu Tarifabschlüssen gekommen sind. Diese Entwicklung bedeutet natürlich, dass die Markteinkommen im Osten sehr, sehr gering geworden sind, so dass sehr, sehr viele qualifizierte Menschen, hoch qualifizierte junge Leute aus den östlichen Bundesländern dann auch abwandern.
Breker: Das heißt, die blühenden Landschaften werden menschenleere Landschaften sein?
Emunds: Wenn Sie so wollen, ist das ein Kollateralschaden der neoliberalen Politik, die wir in den letzten 20 Jahren hatten.
Breker: In anderen Umfragen lesen wir, dass ein Drittel der Mittelschicht bei uns in Deutschland Angst hat vor dem Abstieg in die Armut. Wovor konkret müssen diese Menschen Angst haben, beziehungsweise haben sie real Angst?
Emunds: Es ist natürlich so, dass die wirtschaftsliberale Politik, von der ich gesprochen habe, sehr, sehr deutlich darauf zielt, den Sozialstaat einzuschränken, und zwar wird dann immer gesagt, der Sozialstaat muss für die wirklich armen, für die wirklich bedürftigen zuständig sein. Das heißt natürlich, dass Sicherungen auch gerade in diesem Mittelbereich abgebaut werden. Hinzu kommt, dass wir bewusst forciert eben auch einen Anstieg der Lohnspreizung haben, so dass wir feststellen können, dass bei diesen Markteinkommen, wie man das nennt, oder bei den Arbeitseinkommen gerade die mittleren und unteren Einkommen enorme Abstriche in den letzten zehn Jahren haben hinnehmen müssen, und das wirkt sich natürlich jetzt aus.
Breker: Ist die Sorge denn unbegründet?
Emunds: Nein. Die Sorge ist insofern nicht unbegründet, oder vorsichtiger: die Sorge ist nicht unbegründet in den unteren Bereichen der Mittelschichten. Die haben ganz eindeutig Abstriche zu verzeichnen. Wie das mit der Mitte der Mitte und der oberen Mitte ist, das wird sich natürlich jetzt auch infolge der Krise noch neu abzeichnen. Wir wollen hoffen, dass diese Erosion der Mittelschichten nicht weiter voranschreitet.
Breker: Manch einer wundert sich ja, was aus dem sozialen Frieden hierzulande wird. Wie ist das eigentlich? Wer arm ist, wer ganz unten ist, flieht der in die Resignation, oder wie verhält der sich?
Emunds: Ich glaube, das sind zwei Entwicklungen, die man zusammen sehen muss. Auf der einen Seite ist es tatsächlich so, dass empirische Studien zeigen, dass Leute mit einem geringen Einkommen, oder die eben wirklich nur noch Transfers beziehen, nur noch Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II beziehen, dass dort die Resignation wächst. Je mehr sie natürlich ohne Erfolg versucht haben, eine Arbeitsstelle zu bekommen, umso mehr steigt natürlich auch die Resignation.
Die Kehrseite der ganzen Geschichte ist natürlich, dass diese Opfer der Entwicklung gleichzeitig auch noch zu Tätern gestempelt werden, insofern wir eine stark individualisierende Betrachtung eigentlich von Arbeitslosigkeit haben. Das heißt, die Arbeitslosen sind selber schuld, die haben sich nicht ausreichend auf die Hinterbeine gestellt, und wenn Sie wollen können Sie sagen, die ganze Hartz-IV-Logik baut genau darauf auf: man muss den Arbeitslosen wieder Beine machen. Das ist die Auffassung.
Breker: Spielt Scham eine Rolle? Schämt man sich, arm zu sein?
Emunds: Das spielt ganz sicher eine große Rolle. Die Untersuchungen der Sozialwissenschaftler Becker und Hauser zeigen sehr deutlich, dass wir fast auf eine Person, die Arbeitslosengeld II bezieht, noch mal wieder eine Person hinzurechnen müssen, die sich schämt, also die einen Anspruch hätte auf Arbeitslosengeld II, diesen aber nicht einlöst. Das gilt gerade auch im Vollzeiterwerbstätigenbereich. Das heißt, wir haben sehr viele Menschen, die sind wirklich mit einem vollen Job aktiv im Betrieb, aber bekommen so wenig Einkommen, dass sie eigentlich Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben, lösen den aber nicht ein, weil sie eben sagen, ich will der Gesellschaft nicht auf der Tasche liegen.
Breker: Herr Emunds, wir stehen in einem Superwahljahr, wird immer wieder gesagt. Wie entscheiden sich arme Menschen? Nicht wählen?
Emunds: Das steht zu befürchten. Nicht wählen, vielleicht auch der eine oder andere eben zu radikaleren Alternativen greifen.
Breker: Im Deutschlandfunk war das der Leiter des Nell-Breuning-Instituts an der Hochschule St. Georgen in Frankfurt, Bernhard Emunds. Herr Emunds, danke für dieses Gespräch.
Emunds: Gerne.
Bernhard Emunds: Guten Tag, Herr Breker.
Breker: In Zeiten der Wirtschaftskrise, in denen die Politik sogenannten systemrelevanten Banken und Betrieben mit Milliardensummen unter die Arme greift, ist Armut in Deutschland zugleich bittere Realität. Ist das ein Skandal?
Emunds: Das ist ganz sicher ein Skandal, weil Armut im Einkommen bedeutet zugleich Armut in der Beteiligung an der Gesellschaft, bedeutet Ausschluss aus gesellschaftlichen Aktivitäten. Besonders krass ist das natürlich bei Kindern. Da kann man feststellen, dass Kinder, die in Haushalten mit wenig Einkommen groß werden, doppelt so häufig Probleme in der sozialen Entwicklung und in der kognitiven Entwicklung haben. Das ist natürlich eine extreme Chancenungleichheit.
Breker: Wir liegen in Deutschland, haben wir eben gehört, insgesamt bei einer Quote von 14,3 Prozent. Sind das alarmierende Zahlen?
Emunds: Ja. Alarmierend sind natürlich vor allen Dingen die Zahlen, die heute vorgestellt wurden, mit Blick auf die regionale Verteilung der Armut. Das heißt, es gibt wirklich Regionen, die zu abgehängten Regionen werden, und das heißt, bei denen wir von der Forderung des Grundgesetzes nach Vergleichbarkeit der Lebensbedingungen weiter denn je sind.
Breker: Das heißt, Politik hält sich nicht ans Grundgesetz, oder kann die Politik da gar nichts tun?
Emunds: Na ja, die Politik hat natürlich die Entwicklung hin zu mehr Armut in unserer Gesellschaft mit beschleunigt. Es gibt andere Faktoren wie die Globalisierung der Wirtschaft, wie auch eine Schwäche der Gewerkschaften, aber die Politik hat natürlich in den Jahren vor der Krise ganz klar auf eine wirtschaftsliberale Politik der Kostenersparnis, auf eine wirtschaftsliberale Politik der Deregulierung gesetzt, und das bezieht sich auch auf die Regionen. Das heißt, es wurde ja offiziell dann auch das Ziel vergleichbarer Lebensbedingungen in Frage gestellt.
Breker: Ist Armutsbekämpfung heute eigentlich noch ein ernst zu nehmendes Politikziel, oder sind die Menschen, die arm sind, nicht systemrelevant?
Emunds: Im Moment drängt sich natürlich erst mal auf, dass wir unwahrscheinlich viel Geld in die Hand nehmen, um System-Risiken im Bereich des Finanzsystems in den Griff zu kriegen. Das bedeutet natürlich zugleich, dass man das ständige Jammern, das wir jetzt über Jahrzehnte hatten, dass kein Geld da ist für sozialstaatliche Ausgaben, natürlich auch durchaus erst mal relativieren muss. Pater von Nell-Breuning hat schon vor 20 Jahren sehr deutlich gesagt, wenn etwas gewollt ist, dann ist auch Geld dafür da, und wir müssen feststellen, dass offenbar in den letzten 20 Jahren Geld da war oder hätte da sein müssen und man eben doch nicht die Ausgaben getätigt hat.
Breker: Wir haben heute gelernt, dass Ostdeutschland stärker betroffen ist als Westdeutschland. In Mecklenburg-Vorpommern liegt die Zahl bald bei einem Viertel der Menschen. Was sagt uns die Tatsache, dass der Osten stärker bedroht ist als der Westen, über die Ursachen der Armut?
Emunds: Ganz klar ist natürlich, dass ein großes Phänomen für Ostdeutschland die vergleichsweise schlechte wirtschaftliche Entwicklung in diesem Bereich ist, und wir müssen dazu nehmen, dass diese schlechte wirtschaftliche Entwicklung einher ging mit einer sehr geringen Tarifbindung der Unternehmen in diesen Ländern und mit auch sehr schlechten Tarifabschlüssen, sofern die Gewerkschaften überhaupt eben zu Tarifabschlüssen gekommen sind. Diese Entwicklung bedeutet natürlich, dass die Markteinkommen im Osten sehr, sehr gering geworden sind, so dass sehr, sehr viele qualifizierte Menschen, hoch qualifizierte junge Leute aus den östlichen Bundesländern dann auch abwandern.
Breker: Das heißt, die blühenden Landschaften werden menschenleere Landschaften sein?
Emunds: Wenn Sie so wollen, ist das ein Kollateralschaden der neoliberalen Politik, die wir in den letzten 20 Jahren hatten.
Breker: In anderen Umfragen lesen wir, dass ein Drittel der Mittelschicht bei uns in Deutschland Angst hat vor dem Abstieg in die Armut. Wovor konkret müssen diese Menschen Angst haben, beziehungsweise haben sie real Angst?
Emunds: Es ist natürlich so, dass die wirtschaftsliberale Politik, von der ich gesprochen habe, sehr, sehr deutlich darauf zielt, den Sozialstaat einzuschränken, und zwar wird dann immer gesagt, der Sozialstaat muss für die wirklich armen, für die wirklich bedürftigen zuständig sein. Das heißt natürlich, dass Sicherungen auch gerade in diesem Mittelbereich abgebaut werden. Hinzu kommt, dass wir bewusst forciert eben auch einen Anstieg der Lohnspreizung haben, so dass wir feststellen können, dass bei diesen Markteinkommen, wie man das nennt, oder bei den Arbeitseinkommen gerade die mittleren und unteren Einkommen enorme Abstriche in den letzten zehn Jahren haben hinnehmen müssen, und das wirkt sich natürlich jetzt aus.
Breker: Ist die Sorge denn unbegründet?
Emunds: Nein. Die Sorge ist insofern nicht unbegründet, oder vorsichtiger: die Sorge ist nicht unbegründet in den unteren Bereichen der Mittelschichten. Die haben ganz eindeutig Abstriche zu verzeichnen. Wie das mit der Mitte der Mitte und der oberen Mitte ist, das wird sich natürlich jetzt auch infolge der Krise noch neu abzeichnen. Wir wollen hoffen, dass diese Erosion der Mittelschichten nicht weiter voranschreitet.
Breker: Manch einer wundert sich ja, was aus dem sozialen Frieden hierzulande wird. Wie ist das eigentlich? Wer arm ist, wer ganz unten ist, flieht der in die Resignation, oder wie verhält der sich?
Emunds: Ich glaube, das sind zwei Entwicklungen, die man zusammen sehen muss. Auf der einen Seite ist es tatsächlich so, dass empirische Studien zeigen, dass Leute mit einem geringen Einkommen, oder die eben wirklich nur noch Transfers beziehen, nur noch Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II beziehen, dass dort die Resignation wächst. Je mehr sie natürlich ohne Erfolg versucht haben, eine Arbeitsstelle zu bekommen, umso mehr steigt natürlich auch die Resignation.
Die Kehrseite der ganzen Geschichte ist natürlich, dass diese Opfer der Entwicklung gleichzeitig auch noch zu Tätern gestempelt werden, insofern wir eine stark individualisierende Betrachtung eigentlich von Arbeitslosigkeit haben. Das heißt, die Arbeitslosen sind selber schuld, die haben sich nicht ausreichend auf die Hinterbeine gestellt, und wenn Sie wollen können Sie sagen, die ganze Hartz-IV-Logik baut genau darauf auf: man muss den Arbeitslosen wieder Beine machen. Das ist die Auffassung.
Breker: Spielt Scham eine Rolle? Schämt man sich, arm zu sein?
Emunds: Das spielt ganz sicher eine große Rolle. Die Untersuchungen der Sozialwissenschaftler Becker und Hauser zeigen sehr deutlich, dass wir fast auf eine Person, die Arbeitslosengeld II bezieht, noch mal wieder eine Person hinzurechnen müssen, die sich schämt, also die einen Anspruch hätte auf Arbeitslosengeld II, diesen aber nicht einlöst. Das gilt gerade auch im Vollzeiterwerbstätigenbereich. Das heißt, wir haben sehr viele Menschen, die sind wirklich mit einem vollen Job aktiv im Betrieb, aber bekommen so wenig Einkommen, dass sie eigentlich Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben, lösen den aber nicht ein, weil sie eben sagen, ich will der Gesellschaft nicht auf der Tasche liegen.
Breker: Herr Emunds, wir stehen in einem Superwahljahr, wird immer wieder gesagt. Wie entscheiden sich arme Menschen? Nicht wählen?
Emunds: Das steht zu befürchten. Nicht wählen, vielleicht auch der eine oder andere eben zu radikaleren Alternativen greifen.
Breker: Im Deutschlandfunk war das der Leiter des Nell-Breuning-Instituts an der Hochschule St. Georgen in Frankfurt, Bernhard Emunds. Herr Emunds, danke für dieses Gespräch.
Emunds: Gerne.