Maja Ellmenreich: Der Kasseler Friedrichsplatz unterscheidet sich in einem Punkt nur geringfügig von einem Fußballplatz. Denn während auf letzterem gilt "Nach dem Spiel ist vor dem Spiel", heißt es rund um den Friedrichsplatz "Nach der documenta14 ist vor der documenta15". Und die wird das Künstlerkollektiv Ruangrupa aus dem indonesischen Jakarta leiten und damit ein mittelschweres Erbe antreten: das von Adam Szymczyks documenta14 - mit ihren Zwillingsstandorten Kassel und Athen, mit dem angeblich millionenschweren Defizit und dem darauf folgenden Abtritt der Geschäftsführerin Annette Kulenkampff. Nun also soll ein ganzes Team die künstlerische Leitung übernehmen. Frage an unseren Kunstkritiker Carsten Probst: Das hat’s noch nicht gegeben in Kassel, oder?
Carsten Probst: Ja, das ist nominell richtig, Frau Ellmenreich, eben weil jetzt der Name eines Kollektivs genannt wird und nicht etwa von Ade Darmawan, der seit der Gründung von ruangrupa offenbar als so eine Art Koordinator des Ganzen fungiert hat und fungiert. Allerdings muss man auch wirklich sagen, haben sich die letzten documentas de facto immer schon als ein Teamwork verstanden. Wenn Sie sich an die Eröffnung vor zwei Jahren erinnern, wo Adam Szymczyk mit einer ganzen reihe von Co-Kuratoren auf der Bühne stand und sich immer eigentlich nur widerwillig als d e r künstlerische Leiter bezeichnen ließ.
Kooperative und künstlerische Forschung
Roger M. Buergel trat mit seiner Frau Ruth Noack quasi auch schon als Kuratoren-Paar an. Oder denken Wir an Okwui Enwezor oder Carolin Christof-Barkaghiev, allesamt Kuratorinnen- oder Kuratorenstäbe, die wirklich die Arbeit schon geteilt haben. Also eigentlich hat die documenta frühzeitig begonnen, diesen alles überblickenden großen Regisseur aufzugeben. Mittlerweile finden sie das bei vielen Ausstellungsprojekten in aller Welt.
Maja Ellmenreich: Werfen wir mal einen Blick auf diese Gruppe, die sich im Jahr 2000 zusammengefunden hat und die damals gar nicht damit gerechnet hat, dass diese Gruppe überhaupt solange bestehen würde. Was macht, Carsten Probst, ihre Kunst aus, oder sagen wir es mal anders, ihre Denkweisen, ihre Philosophie, oder ihre Art zu kuratieren?
Probst: Ja, sie stehen für einen kooperativen Ansatz ohne einheitliche ästhetische Agenda. Das liegt aber schon in der Logik dessen, was ich eben zu diesen Kuratorinnengruppen gesagt habe. Es gibt nicht mehr den einen übergreifenden ästhetischen Ansatz, der von einer Person geleitet wird, oder eine Ausrichtung an die Ästhetik der sogenannten Westkunst nach dem Zweiten Weltkrieg folgt. "Ruangrupa" ist eine Non-Profit-Organisation. So bezeichnen sie sich. Sie haben wechselnde Mitgliederzahlen, wechselnde Ausrichtungen, sie sind projektweise immer wieder anders international vernetzt. In Jakarta haben sie offenkundig stark einen Zweig der Kunstvermittlung und der Sozialarbeit. Das entspricht in vielen Fällen dem, was wir auch mittlerweile in Europa unter sogenannter künstlerischer Forschung verstehen. Künstler gehen ohne kommerzielle Interessen, irgendwelche Werke verkaufen zu müssen, in soziale Brennpunkte, in Schulen, in Umweltprojekte, in Friedensprojekte. Sie machen Arbeit mit Flüchtlingen, mit Migranten. In Ostasien, Lateinamerika, Afrika kommen dazu sehr häufig auch Stadtplanungsprojekte. Sie arbeiten am Erhalt lokaler Traditionen. So zum Beispiel auch als Widerstand gegen großkapitalistische Unternehmungen.
Also das sind oft gezielt Projekte, wo etwa Entwicklungshilfe weniger ankommt. Und ich denke bei der documenta, gerade bei der Findungskommission wollte man auch etwas, was nicht so klar ästhetisch bestimmbar ist, was man sozusagen in Kassel noch nicht so direkt sich vorstellen kann. Und auch, dass "ruangrupa" ganz stark Zielgruppen anspricht, die über dieses reine Kunstpublikum hinausgeht.
Kein Gegenprogramm zum Vorgänger Szymczyk
Ellmenreich: Könnte man dann in irgendeiner Art und Weise die Entscheidung für "Ruangrupa" auch als eine Reaktion auf Adam Szymczyk und womöglich seine Art zu kuratieren deuten? Ihm wurde ja immer mal wieder vorgeworfen, zu ambitioniert politisch zu sein und vielleicht das ein oder andere Mal auch die künstlerische Qualität aus dem Blick zu verlieren. Also: Ist das so eine Art Gegenprogramm?
Probst: Gegenprogramm in keinem Fall. Ich bin nach einiger Überlegung sogar fast der Meinung, dass man vieles fortsetzt jetzt mit dem, was Szymczyk ebenfalls schon betrieben hat mit seinem Ansatz und auch was seit vielen Jahren - eigentlich seit Catherine David mit der documenta 10 in 1997 - eigentlich ins Werk gesetzt wurde, insbesondere der Blick auf außereuropäische Modernen, glaube ich. Das war für Adam Szymczyk - das wird oft vergessen - ja auch sehr wichtig, gerade mit dieser Verlagerung der documenta in einen anderen, zwar europäischen Bereich, aber doch der Versuch, wirklich viele afrikanische, viele migrantische Künstlerinnen und Künstler in die documenta einzubeziehen, den Kunstbegriff aufzuweichen, das wird hier eindeutig fortgesetzt. Man wünscht sich vielleicht, dass die Besucherzahlen außerhalb des Kunstkontextes wachsen. Und da bin ich sehr gespannt, was wir dann in Kassel erleben werden, ob es dieser Gruppe aus Indonesien wirklich gelingt, das auch wirklich weltumspannend zu verwirklichen, dass die Leute auf Kassel wieder - man kann sagen - noch mal neu neugierig werden, dass sich die documenta vielleicht noch mal ein Stück weitererfinden und -entwickeln kann.