Uli Blumenthal: Diese Woche wurde ein Bericht bekannt, nach dem sich in einer Sammlung der Berliner Charité noch immer mehr als 1.000 Schädel aus ehemaligen deutschen Kolonien befinden. Obwohl die Kolonialzeit weit über 100 Jahre zurückliegt und die Bundesregierung mittlerweile von einem Genozid an zehntausenden Hereo und Nama spricht, ist dieser Teil der deutschen Kolonial-Geschichte weiter nicht aufgearbeitet.
Michael Stang, der für den Deutschlandfunk über koloniale Altlasten in wissenschaftlichen Archiven recherchiert hatte. Warum dauert das solange, warum gibt es immer noch solche Archive?
Michael Stang: Die Gründe sind vielfältig. Zum einen wurde dieser Teil der Historie schlicht Jahrzehntelang von Wissenschaft und Politik ignoriert, zum anderen hatte die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte gegenüber der Aufarbeitung der NS-Verbrechen nicht oberste Priorität.
Die jetzt bekannt gewordenen Geschichte, dass sich in der Felix-von-Luschan-Sammlung, die sich in Obhut der Stiftung Preußischer Kulturbesitz befindet, noch mehr als 1 000 Schädel aus Tansania und Ruanda liegen, ist daher keine Überraschung. Hinzukommt, das hat die Stiftung auch in einer Rechtfertigung bekannt gegeben, dass die Sammlung schon lange bekannt ist.
Neu ist eine jetzt publik gewordene Inventar-Liste. Sie stammt offenbar aus den alten Beständen der Charité und gibt an, um was es sich handelt und woher es stammt, etwa der Begriff Tansania und Schädel. Ob die Liste dem tatsächlichen Archivbestand entspricht, überprüft die Stiftung Preußischer Kulturbesitz derzeit.
"In vielen Institutionen befinden sich menschliche Überreste aus der Kolonialzeit"
Blumenthal: Die Charité-Sammlung sollte ja wissenschaftlich begutachtet werden und eventuell weitere Rückgaben erfolgen. Das ist offenbar nicht passiert.
Stang: Und das ist auch die eigentliche Neuigkeit, dass noch immer nicht viel passiert ist, obwohl es von vielen Seiten Druck auf die Politik und Wissenschaft gegeben hat. Ich war vor gut anderthalb Jahren in dieser Sammlung und offenbar ist die Provenienzforschung da noch nicht viel weitergekommen.
Generell befinden sich weiter in vielen wissenschaftlichen Archiven in Deutschland - die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist da wirklich nur eine von vielen Institutionen - menschliche Überreste aus der Kolonialzeit - Schädel, Knochen, Hautreste und Haare.
Deren Herkunft ist teils unbekannt, genaue Dokumentationen aus dieser Zeit sind Mangelware. Das ist alles seit Jahrzehnten bekannt, aber immer noch gibt es kaum Forschungsmittel für eine Provienienzforschung, wo Herkunft, Besitz und Eigentum geklärt und eine Lösung gefunden werden kann.
Wie schwer sich die Politik damit tut, sieht man daran, dass die Bundesregierung den Genozid an den Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 im damaligen Deutsch-Südwestafrika erst seit Juli 2015 als Völkermord bezeichnet. Und erst in diesem Sommer hat sich die Bundesregierung offiziell zu einer Entschuldigung für den Mord an 75.000 Menschen bereiterklärt, eine gemeinsam von Namibia und Deutschland erarbeitete Regierungserklärung soll Ende des Jahres abgeschlossen werden.
Bei der jetzigen Geschichte geht es aber nicht um Namibia, sondern um Tansania und Ruanda, damit wird deutlich, was an Aufarbeitung eigentlich noch bevorsteht.
"Gelder etwa von der Deutschen Forschungsgemeinschaft für solche Projekte sind rar"
Blumenthal: Sie sagten, dass Berlin nur eines von vielen Beispielen sei. Handhaben das die Bundesländer oder die Universitäten gemeinsam oder ist für die Aufarbeitung jedes Institut selbst verantwortlich?
Stang: Im Prinzip geht es in erster Linie um Eigenverantwortung. Eine solche Aufarbeitung ist kosten- und zeitintensiv. Gelder etwa von der Deutschen Forschungsgemeinschaft für solche Projekte sind rar. Viele Museen können das nicht stemmen - und angesichts der jahrzehntelangen Verdrängung wollen das viele vielleicht auch weiterhin nicht unbedingt.
Ein erstes gemeinsames Vorhaben gab es 2013 - da hatte der Deutsche Museumbund die so genannten "Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überreste in Museen und Sammlungen" herausgegeben - es sind aber nur Empfehlungen, keine Richtlinien. Dort können sich Museen informieren, wie sie etwa auf Rückgabeforderungen reagieren.
Wichtig ist aber auch proaktives Handeln - und da gibt es durchaus Positivbespiele - etwa die Universität Jena: Vorvergangen Woche hat ein Historikerteam seine Recherchen zum Thema "Koloniale Spuren in naturkundlichen Sammlungen der Universität Jena" vorgestellt.
Dort sorgte ein Präparat für Aufsehen, ein 13 mal vier Zentimeter langer Streifen, auf dem Etikett ist vermerkt "Kopfhaut eines Herero". Die Herkunftsgeschichte konnte nicht ganz geklärt werden, es gibt drei mögliche Objektbiographien. Die "Kopfhaut" wird jetzt behutsam in einem schwarzen, mit Samt ausgekleideten Kästchen in Jena aufbewahrt und wartet dort auf die Rückkehr nach Namibia. Wann es aber eine erneute offizielle Rückführung sterblicher Überreste nach Namibia geben wird, ist allerdings noch offen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.