"Es ist wichtig, dass wir uns bemühen, die heutige Wissenschaft zu dekolonialisieren." Seit rund 25 Jahren lehrt Charles Weijer an der Western University in Kanada. Vieles sei in dieser Zeit besser geworden, sagt er.
"Es gibt eine größere Sensibilität für ungleiche Machtverhältnisse. Internationale Richtlinien stellen neue ethische Vorgaben auf. Das ist positiv. Aber leider gibt es auch immer noch Beispiele für das, was ich koloniale Wissenschaft nennen würde."
Charles Weijer ist Bio-Ethiker. Immer wieder begegnet ihm Forschung, die er für unethisch hält. Es sei hoffentlich nicht die Masse, sagt er, aber von jeder einzelnen mangelhaft durchgeführten Studie könnten zehntausende oder hunderttausende Menschen betroffen sein. So wie bei der Studie mit Mosquirix. "Ich war schockiert, als ich gehört habe, wie diese Studie abgelaufen ist - und dass die WHO ihre Fehler nicht zugeben will."
Malaria-Impfstoff Mosquirix für Säuglinge und Kleinkinder umstritten
400.000 Kinder sterben jedes Jahr an Malaria. Schutzmaßnahmen wie Moskitonetze lösen das Problem offensichtlich nur bedingt. Ein Impfstoff dagegen wäre der Durchbruch - wenn er denn wirkt. Seit den 1980er Jahren wird der Impfstoff Mosquirix entwickelt. Aber Studien zeigen, dass er Säuglinge kaum schützt und Kleinkinder nur zu etwa 30 Prozent – nach vier Impfdosen.
"Kein toller Wert. Viele Impfstoffe schützen zu über 90 Prozent. Außerdem traten in der Studie Sicherheitsbedenken auf. Es gab mehr Fälle von Hirnhautentzündung und sehr unerwartet eine höhere Sterblichkeit bei Mädchen als bei Jungen."
Im Jahr 2015 empfahl die europäische Arzneimittel-Agentur in einer wissenschaftlichen Stellungnahme, Mosquirix nur begrenzt einzusetzen, im Rahmen weiterer Studien in afrikanischen Ländern. Die darauf folgende Studie der Weltgesundheitsorganisation und der Einsatz von Mosquirix in Ghana, Kenia und Malawi sahen Ethiker allerdings kritisch. Weijer:
"Wie diese Studie aufgesetzt wurde, ist wirklich problematisch. Eine Überprüfung durch eine Ethikkommission wurde umgangen und auch die Aufklärung und Einwilligung der 720.000 Kinder, die in Ghana, Kenia und Malawi an der Studie teilnehmen, wurde umgangen."
Vermeintliche Standard-Impfung in Wahrheit Impfstudie?
Die Regierungen der drei Länder, so Weijer, hätten Mosquirix in ihr Standard-Impfprogramm aufgenommen.
"Aber dann wurden die Regierungen um etwas sehr Ungewöhnliches gebeten, was normalerweise bei der Einführung eines Impfstoffs nicht gemacht wird: sie sollten zufällig festlegen, ob der Impfstoff in einem Bezirk gegeben wird oder nicht."
Die Weltgesundheitsorganisation WHO will so Mosquirix weiter erforschen. Aber die Vorgehensweise lässt die Grenzen zwischen der Einführung des Impfstoffs und der Durchführung einer Studie verschwimmen. Eltern, die ihre Kinder impfen lassen wollten, konnten zwar bei Informationsveranstaltungen oder im Internet auch Informationen zu Mosquirix abrufen - genau wie zu allen anderen Impfstoffen, die Kinder normalerweise bekommen. Aber sie seien nicht darüber informiert worden, dass sie und ihre Kinder an einer Studie teilnehmen. Wer in einer der Pilotregionen sein Kind zum Impfen brachte, dessen Einverständnis wurde vorausgesetzt. Ob die Eltern sich überhaupt über den Impfstoff informiert hatten, sei nicht überprüft worden.
"Also wurden in dieser Studie 720.000 Kinder nichtsahnend und ohne das Einverständnis ihrer Eltern zu Probanden. Das ist nicht nur eine Verletzung internationaler Ethik-Regeln. Es ist sogar eine Menschenrechtsverletzung. Und im Forschungskontext ist es die größte Verletzung der Menschenrechte von Kindern, die mir bekannt ist."
"WHO verletzt die eigenen ethischen Leitlinien"
Die Ethik-Regeln, von denen Charles Weijer spricht, hat er zum Teil selbst mitverfasst. Er ist Hauptautor der Ottawa-Erklärung zur ethischen Gestaltung und Durchführung cluster-randomisierter Studien. In diesen Studien werden nicht einzelne Probanden zufällig ausgewählt etwa einen Wirkstoff oder ein Placebo zu erhalten, sondern ganze Gruppen von Probanden. Das bringt besondere ethische Herausforderungen mit sich. Fünf Jahre hat Weijer mit Co-Autorinnen an der Ottawa-Erklärung gearbeitet. Darauf aufbauend veröffentlichte 2016 auch der Rat für Internationale Organisationen der medizinischen Wissenschaft, kurz CIOMS, Regeln für ethische cluster-randomisierte Studien. Erstellt wurde das Dokument in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation WHO. Doch die WHO ist es auch, die die Mosquirix-Studie durchführt. Weijer:
"Die WHO verletzt also die von ihr selbst mitverfassten ethischen Leitlinien, nach denen sich die WHO der öffentlichen Darstellung zufolge richtet."
Ethiker veröffentlichten ihre Kritik in mehreren Artikeln im British Medical Journal. Wissenschaftliche Führungskräfte der WHO schrieben eine Replik:
"Die Entscheidung, den Impfstoff in zufällig ausgewählten Communitys einzuführen, wurde zusammen mit den Behörden der jeweiligen Länder getroffen, um die begrenzte Anzahl von Impfdosen in dieser ersten phasenweisen Einführung zuzuteilen. Das hat den zusätzlichen Nutzen, dass die Evaluierung des Programms an Robustheit gewinnt."
Verzicht auf informierte Einwilligung "sieht nach kolonialer Wissenschaft aus"
Diese Evaluierung sei getrennt von der Einführung des Impfstoffs zu betrachten, heißt es weiter. Die WHO scheint damit zu verneinen, dass es sich überhaupt um eine Studie handelt. Stattdessen stellt sie die Impfung der 720.000 Kinder als Pilotprojekt zur landesweiten Einführung des Impfstoffs dar. Doch öffentlich auf der Website der WHO verfügbare Dokumente sprechen laut Charles Weijer eine andere Sprache. Darin sei ganz klar abzulesen, dass die WHO die Einführung von Mosquirix als cluster-randomisierte Studie geplant habe.
"Wenn diese Studie in Europa oder Kanada oder den Vereinigten Staaten durchgeführt würde, stünde völlig außer Frage, dass die gesamte Studie einer Ethikkommission vorgelegt werden und die informierte Einwilligung jedes Teilnehmers und jeder Teilnehmerin eingeholt werden würde. Warum hat die WHO sich entschieden, es bei einer Malaria-Impfstoff-Studie in Afrika anders zu machen? Die einzige Erklärung ist für mich, dass hier unterbewusst eine koloniale Denkweise herein gespielt hat. Dass Wissenschaftler in einer bevormundenden Weise denken, nun ja, ein Malaria-Impfstoff wäre sehr wichtig für Afrika, also lasst es uns einfach durchziehen. Das ist Messen mit zweierlei Maß. Es gibt einen Standard für Forschung in reichen Ländern und einen anderen Standard für Forschung in Afrika. Für mich sieht das nach kolonialer Wissenschaft aus."
Ein globaler Verhaltenskodex für ethische Forschung
Dabei sind die Regeln für eine Wissenschaft ohne Ethik-Dumping gar nicht so kompliziert.
Globaler Verhaltenskodex für Forschung in Ressourcenarmen Gegenden, Aspekt "Fürsorge", ARTIKEL 14:
"Forschung, die in einer einkommensstarken Gegend starken Einschränkungen oder Verboten unterliegen würde, darf auch in einkommensschwachen Gegenden nicht durchgeführt werden."
"Forschung, die in einer einkommensstarken Gegend starken Einschränkungen oder Verboten unterliegen würde, darf auch in einkommensschwachen Gegenden nicht durchgeführt werden."
"Was in Deutschland oder auch in Europa nicht akzeptabel wäre, sollte auch nicht in Afrika akzeptabel sein." Sagt Doris Schröder, Leiterin des Zentrums für professionelle Ethik an der Universität von Central Lancashire in England. Sie hat den Begriff Ethik-Dumping mit geprägt:
"Das ist besonders wichtig, wenn man zum Beispiel als Forscher aus Deutschland kommt und schon Nutznießer davon ist, dass wir hier Privilegien haben, auch dass wir nicht ausgebeutet werden in der Forschung, dann ist das eben besonders schlimm, wenn man woanders hingeht und diese Privilegien, die man selber genießt, nicht weitergibt an die, mit denen man forscht."
Gebot zur Nicht-Ausbeutung gilt auch für Forschungskollaborationen
Dasselbe gilt für Entwicklungs- und Schwellenländer auf anderen Kontinenten. Das Gebot zur Nicht-Ausbeutung bezieht Doris Schröder auch auf Kollaborationen mit Forschern und Forscherinnen vor Ort:
"Es gibt auf jeden Fall noch das Problem der Einstellung, dass, wenn man mit den Geldern kommt und mit dem Wissen und der Ausbildung aus dem Westen, dass man dann etwas zu bieten hat, was die Kollegen in den ressourcenarmen Ländern nicht zu bieten haben. Und das führt dann auch zu einer Dominanz der Forscher, die mit diesen Geldern kommen, die manchmal eben auch in Arroganz ausartet und dann zu Problemen führt."
Das könne etwa das bloße Ausnutzen von Kontakten lokaler Forscher sein, oder sie lediglich mit dem Sammeln von Blutproben oder Bodenproben oder der Aufzeichnung von Interviews zu beauftragen. An der Auswertung würden die Partner vor Ort dann oft nicht beteiligt.
"Und als Forscher hat man davon natürlich gar nichts. Als Forscher hat man was von Publikationen oder von Geldern, aber nicht davon, dass man jemandem Zugang verschafft hat."
Globaler Verhaltenskodex für Forschung in Ressourcenarmen Gegenden, Aspekt "Ehrlichkeit", ARTIKEL 21:
"Niedrigere Bildungsstandards, Analphabetismus oder Sprachbarrieren sind keinesfalls eine Entschuldigung für das Zurückhalten von Informationen."
"Niedrigere Bildungsstandards, Analphabetismus oder Sprachbarrieren sind keinesfalls eine Entschuldigung für das Zurückhalten von Informationen."
Vorwürfe gegen Gebärmutterhalskrebs-Studie in Indien
Auch in Indien gibt es Vorwürfe gegen cluster-randomisierte Studien. Auch hier sollen Institutionen aus Industrieländern niedrigere Maßstäbe angelegt haben als sie das in ihrem Heimatland getan hätten.
"Auch in einem Land wie Indien, selbst in armen Teilen des Landes, muss die Standardbehandlung dem Stand der Medizin entsprechen. Man kann nicht sagen, ‚keine Behandlung‘ ist der Standard. Das ist im Grunde, was die gesagt haben. Sie haben gesagt, es gibt dort keine Behandlung, also ist das die Standardbehandlung. Das ist inakzeptabel."
Sandhya Srinivasan ist Journalistin in Mumbai und Redakteurin beim Indischen Journal für Medizinethik. Dort hat sie zu drei Studien recherchiert, die von 1998 bis 2015 in ihrem Land durchgeführt wurden. An 374.000 Frauen wurde untersucht, ob eine einfache optische Methode zur Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs taugt - als Alternative zum Pap-Test.
Der Pap-Test beruht auf einem Zellabstrich, der von Fachpersonal durchgeführt und unter dem Mikroskop analysiert werden muss. Bei der Alternativ-Methode wird in einem einfachen Screening mit einem Wattestäbchen eine Essigsäurelösung direkt auf den Gebärmutterhals aufgetragen. Verfärben sich die Zellen, besteht Anlass zur Sorge. Diese Untersuchung ist einfach durchzuführen und kostengünstig. Die Studien sollten die Wirksamkeit belegen.
Kontrollgruppe bekam nicht die Standardbehandlung - sondern gar keine
Rekrutiert wurden die Probandinnen vor allem in ländlichen Gegenden und in den Slums von Mumbai. 233.000 Frauen bekamen die optischen Vorsorgeuntersuchungen, 141.000 Frauen waren in der Kontrollgruppe. Diese bekamen lediglich Informationen über Gebärmutterhalskrebs und Hinweise, wo sie sich untersuchen oder behandeln lassen könnten.
"Tausende Frauen haben nichts bekommen, keine Behandlung, obwohl sie Teil der Studie waren. Und das widerstrebt einfachster Forschungsethik."
254 Frauen in den Kontrollgruppen starben, eine deutlich höhere Quote als unter den Frauen, die Vorsorgeuntersuchungen bekamen. Sandhya Srinivasan sagt, statt keinerlei Untersuchung hätten die Frauen in der Kontrollgruppe den Pap-Test bekommen müssen, der auch in Indien seit den 1970er Jahren verbreitet sei.
"Der Pap-Test war der Behandlungsstandard in Indien. Dasselbe Krankenhaus, das diese Studie in Mumbai durchgeführt hat, das Tata Memorial Krankenhaus, hat jeder Frau, die zum Screening gekommen ist, den Pap-Test angeboten. Aber als sie in den Slums rund um das Krankenhaus diese Studie gemacht haben, hat die Hälfte der Frauen die einfachere Methode bekommen und die andere Hälfte hat gar nichts bekommen."
Aufnahme in wissenschaftliche Studie bedeutet Verantwortlichkeit
Allerdings hätten sich die Frauen die Untersuchung außerhalb der Studie wohl auch nicht leisten können. Weil sie schlechteren Zugang zu Vorsorge und Behandlung haben, betrifft Gebärmutterhalskrebs vor allem ärmere Frauen. Sie erkranken häufiger daran und sterben häufiger daran. In Indien ist Gebärmutterhalskrebs eine der am häufigsten tödlich verlaufenden Krebsdiagnosen bei Frauen über 15 Jahren. Doch nimmt man eine Frau in eine wissenschaftliche Studie auf, dürfe man sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen, argumentiert Sandhya Srinivasan.
"Sobald sie Teil einer Studie ist, ist es irrelevant, was der Frau außerhalb der Studie hätte passieren können. Dann wäre die Verantwortlichkeit eine andere gewesen. Sobald eine Frau Teil der Studie ist, ändert sich das Bild komplett."
Wären die drei Studien in einem Industrieland durchgeführt worden, hätte die Mindestversorgung außer Frage gestanden. Doch die Studien wurden nur von Institutionen in Industrieländern finanziert: von der Nationalen US-Gesundheits-behörde NIH, von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung und von der Internationalen Agentur für Krebsforschung, die zur WHO gehört und ihren Sitz in Frankreich hat. Das führt zu einem Machtgefälle und macht die Fragen danach, wer die Forschungsfragen bestimmt und wer von den Forschungsergebnissen profitiert, noch dringlicher.
"Machtgefälle spielen eine große Rolle, nicht nur zwischen Ländern, sondern auch innerhalb des Landes. Die Reichen und Gebildeten bestimmen die Agenda. Und interessanterweise bestimmen sie die Agenda für eine Krankheit, die sie gar nicht betrifft. Sie können sich ja Pap-Tests leisten. Also, die entscheiden einfach, welche Art von Forschung die Armen verdient haben."
Globaler Verhaltenskodex für Forschung in Ressourcenarmen Gegenden, Aspekt "Ehrlichkeit", ARTIKEL 20:
"Zwischen den Beteiligten ist eine klare Übereinkunft bezüglich ihrer Rollen, Verantwortlichkeiten und ihres Verhaltens zu treffen. Diese betrifft den gesamten Forschungszyklus vom Design bis zur Durchführung, der Bewertung und der Veröffentlichung der Studie."
"Zwischen den Beteiligten ist eine klare Übereinkunft bezüglich ihrer Rollen, Verantwortlichkeiten und ihres Verhaltens zu treffen. Diese betrifft den gesamten Forschungszyklus vom Design bis zur Durchführung, der Bewertung und der Veröffentlichung der Studie."
Volk der San in Südafrika ist begehrtes und problematisches Forschungsziel
Doris Schröder hat intensiv mit dem Volk der San an der Entwicklung ethischer Standards für die Forschung gearbeitet. Die weit verstreut in der Kalahari lebenden Gruppen ziehen seit Langem Forschungsreisende an - unter anderem wegen ihres alten, überlieferten Wissens und wegen ihres Genpools.
"Die San-Gruppe in Südafrika, Namibia und Botswana zählt zu den wirklich ärmsten Menschen der Welt. Wenn da Forscher reinkommen, dann besteht dann natürlich die Hoffnung, dass man davon einen Nutzen hat. Warum sollte man, wenn man extrem arm ist, zur Forschung beitragen? Denn der Nutzen für die Forscher, das sind ja oft Publikationen und Stellen, der ist ja offensichtlich. Warum sollten ausgerechnet die Ärmsten der Welt dazu beitragen, ohne dass sie irgendetwas davon haben? Vor allen Dingen passiert das ja auch oft, dass es dann noch Nachteile gibt, die auch am Anfang nicht verstanden werden, dass zum Beispiel in den Publikationen Sachen stehen, die nicht gut sind für die Gemeinschaft. Und so was kann man überhaupt erst abwenden, wenn man die Forschung so anlegt, dass man die Gruppen, die man involvieren will, dass man die vorher konsultiert."
Genom-Analyse kann Einverständnis der ganzen Gruppe erfordern
Eine Studie, die 2010 viel Aufmerksamkeit bekam, war für die San nach jahrhundertelanger Ausbeutung durch Wissenschaft und Pseudo-Wissenschaft ein wichtiger Wendepunkt. In der Fachzeitschrift Nature erschien ein Artikel, für den das Genom von vier San, den jeweils Ältesten ihrer Gruppe, sequenziert wurde. Doris Schröder bezweifelt, dass von den Probanden eine wirksame Einverständniserklärung eingeholt worden war. Aber vor allem seien nur die vier Probanden, nicht aber die Gemeinschaft über die Forschung informiert und um ihr Einverständnis gebeten worden. Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ist bei den San jedoch ein ganz anderes als in westlichen Kulturen. Die Gemeinschaft hat einen höheren Stellenwert.
"Insbesondere bei genetischen Studien hat das zu Protesten geführt, denn die genetischen Resultate einer Studie betreffen ja auch oft die ganze Gruppe."
Besonders bei Gruppen, die so isoliert und abgeschieden leben wie die San. Die sahen sich ausgebeutet und fühlten sich an koloniale Zeiten erinnert.
"Noch im 19. Jahrhundert wurden San in Südafrika gejagt und getötet, als wären sie keine Menschen. Ihre Kultur wurde sowohl von den holländischen, als auch von den britischen Kolonialmächten negiert. Die holländischen Kolonialmächte zum Beispiel verboten die Klicksprachen. Die meisten San in Südafrika heute sprechen nur noch Afrikaans, und das ist die Sprache der Kolonialmacht. Die Assoziation zwischen den Forschern, die während der Kolonialzeit kamen, und den Forschern, die heute kamen, die ist natürlich in manchen Stellen immer noch vorhanden."
San stellen eigenen Forschungskodex auf
Ein Treffen nach der Veröffentlichung des Papers in Nature brachte beide Seiten nicht näher zusammen. Trotzdem gelang es, die Enttäuschung über und den Protest gegen die Genom-Studie in etwas Positives münden zu lassen. Doris Schröder:
"2017 haben die San dann mit unter anderem meiner Hilfe als erstes indigenes Volk in Afrika ihren eigenen Forschungskodex aufgestellt. Der Kodex hat vier Prinzipien oder Werte, nämlich Fairness, Respekt, Fürsorge und Ehrlichkeit. Und die San erklären dann genau, auf nur zweieinhalb Seiten, was sie von Forschern erwarten."
Keine Ausbeutung, keine Bevormundung, das Halten von Versprechen und den Beginn des Dialogs schon bei der Formulierung der Fragestellung einer Studie gehören zu den wichtigsten Punkten des Kodex. Außerdem die Verpflichtung, dass die San von der Forschung profitieren – etwa durch Assistenzjobs oder materielle Vorteile für die Gemeinschaft. Es ist ein Anfang.
"Das ist aber natürlich schon immer noch der Fall, dass Forscher kommen und nicht zu diesem San Council gehen, sondern direkt ins Feld, sozusagen. Besonders, wenn das Forscher sind, die einfach nur Interviews oder Bodenproben haben wollen, dann ist es natürlich relativ einfach, diese Strukturen zu vermeiden. Und da hat ein ich würde mal sagen, lokal berühmter San-Führer, der leider viel zu früh gestorben ist, mit Anfang 50 an was, was in Deutschland ganz leicht geheilt würde, nämlich Diabetes, der hat dazu gesagt, diese Forscher, die klettern einfach durchs Fenster rein. Wenn Forscher zu uns kommen, dann sollen die doch bitte durch die Tür kommen. Und dann werden sie vom San Council empfangen. Und da wird dann erklärt, was wir hier erwarten von Forschern."
Für die San ist es ohne personelle und finanzielle Ressourcen schwierig, den Kodex durchzusetzen.
Globaler Verhaltenskodex für Forschung in Ressourcenarmen Gegenden, Aspekt "Respekt", ARTIKEL 9:
"Wo erforderlich, ist die Einwilligung der lokalen Bevölkerung über anerkannte lokale Strukturen einzuholen. Auch wenn die Einwilligung der einzelnen Forschungsteilnehmer nicht gefährdet werden darf, ist die Einwilligung der Gemeinschaft möglicherweise eine ethische Voraussetzung und ein Zeichen des Respekts für die lokale Bevölkerung. Jeder Forscher ist selbst dafür verantwortlich, Kenntnis über die lokalen Anforderungen zu erlangen."
"Wo erforderlich, ist die Einwilligung der lokalen Bevölkerung über anerkannte lokale Strukturen einzuholen. Auch wenn die Einwilligung der einzelnen Forschungsteilnehmer nicht gefährdet werden darf, ist die Einwilligung der Gemeinschaft möglicherweise eine ethische Voraussetzung und ein Zeichen des Respekts für die lokale Bevölkerung. Jeder Forscher ist selbst dafür verantwortlich, Kenntnis über die lokalen Anforderungen zu erlangen."
Die primäre Motivation ist nicht immer, die Lage vor Ort zu verbessern. Es geht oft auch um die eigene Karriere. Helikopter-Forschung nennt Doris Schröder es, wenn Forschungsreisende Lösungen anbieten, ohne das Problem verstanden zu haben. Wenn sie sich nur oberflächlich mit den lokalen Gegebenheiten auseinandersetzen und dann wieder verschwinden.
"Helikopter-Forschung": Die fragwürdige Super-Banane für Uganda
Ein Mangel an Vitamin A führt zu einer erhöhten Kindersterblichkeit in Uganda. Gleichzeitig essen die Menschen in Uganda sehr viele Bananen. Barbara Ntambirweki, Forschungs-Fellow bei der Koalition für Entwicklung und Umwelt in Uganda:
"Uganda ist an der Weltspitze, was Bananen-Produktion angeht. Der Verbrauch ist der weltweit höchste mit ungefähr einem Kilogramm pro Kopf und Tag."
Diese Fakten scheint ein Team aus Australien und den USA inspiriert zu haben. Im Projekt "Banana 21" entwickeln sie nach eigenen Angaben eine Banane für das 21. Jahrhundert. Barbara Ntambirweki nennt die genmodifizierte Banane: Super-Banane. Sie enthält mehr Betakarotin als herkömmliche Bananensorten. Im Körper wird Betakarotin in Vitamin A umgewandelt. Eine Studie mit Studentinnen im US-Bundesstaat Iowa sollte zeigen, dass die Superbananen zum Verzehr geeignet sind.
"Das wirft Fragen auf. Warum sollte man eine Verzehrstudie in den USA durchführen, wenn die Bananen in Afrika konsumiert werden sollen? Wissen die Studentinnen in Iowa überhaupt, wie wir in Uganda Bananen zubereiten? Wo ist da die Logik?"
"Die Gen-Banane lenkt von den strukturellen Problemen ab"
Die Studie wurde mehrfach verschoben, auch weil es in den USA Widerstand gab. Barbara Ntambirwekis Kritik an der angereicherten Banane hat viel mit einer generellen Ablehnung von Gentechnik sowie industrieller Landwirtschaft zu tun. Aber sie scheint auch ernsthaft besorgt, was das kulturelle Erbe in Uganda angeht. Mehr als 20 Bananensorten seien auf den Märkten erhältlich und diese Vielfalt sieht sie bedroht. Außerdem werde das Projekt nicht der Komplexität des Problems gerecht.
"Die Gen-Banane lenkt von den strukturellen, zugrundeliegenden Problemen ab, die die Mangelernährung verursachen. Die Mangelernährung hat eine Generation von Kindern in Uganda kaputt gemacht und ist ein großes Problem. Aber unsere Forderung sind bessere Ressourcen für den Gesundheitssektor. Wir fordern ein Ernährungsprogramm und einen Fokus auf die vielen Herausforderungen durch den Klimawandel, Umweltzerstörung und schlechten Zugang zu Gesundheitsversorgung. Schnelle Lösungen wie Genbananen stehlen die Aufmerksamkeit von dort, wo mehr Ressourcen am dringendsten benötigt werden. Wir brauchen eine Kursänderung und echte Problemlösungen."
Diese Lösungen für Menschen in Afrika, sagt Barbara Ntambirweki, sollten von Afrikanern und Afrikanerinnen entwickelt werden. Ein Ansatz ist relativ einfach: eine Bildungskampagne für eine vielfältigere Ernährung, die beispielsweise mehr Lust auf Betakarotin-reiche Süßkartoffeln macht. Oder auf eine der heimischen Bananensorten, die von Natur aus schon mehr Betakarotin enthält als die übrigen Sorten. Aber damit lassen sich keine Forschungsgelder eintreiben, keine Karrieren in der Wissenschaft vorantreiben.
Globaler Verhaltenskodex für Forschung in Ressourcenarmen Gegenden, Aspekt "Fairness". ARTIKEL 1:
"Lokale Relevanz ist bei Forschungsprojekten unverzichtbar und muss in Zusammenarbeit mit lokalen Partnern ermittelt werden. Forschung, die an einem Standort nicht relevant ist, bürdet Belastungen auf ohne entsprechenden Nutzen."
"Lokale Relevanz ist bei Forschungsprojekten unverzichtbar und muss in Zusammenarbeit mit lokalen Partnern ermittelt werden. Forschung, die an einem Standort nicht relevant ist, bürdet Belastungen auf ohne entsprechenden Nutzen."
Kurzer und klarer Kodex statt "Forschungsethik-Maschinerie"
Wer wissenschaftlich mit den San im südlichen Afrika arbeiten will, ist angehalten, deren Kodex zu folgen. Um Vergleichbares für andere Forschungsprojekte zu erreichen, hat Doris Schröder in einem EU-Projekt an einem weiteren Kodex gearbeitet: dem Globalen Verhaltenskodex für Forschung in ressourcenarmen Gegenden.
"Es hat drei Jahre gedauert, diesen Kodex zu entwickeln und wir haben 55 Autoren aus der ganzen Welt. " Unter den Autoren sind auch San oder Sex-Arbeiterinnen aus Nairobi vertreten. Besonders stolz ist Doris Schröder darauf, dass der Kodex nur zwei Seiten lang ist. Denn seit den Anfängen moderner Ethik-Richtlinien in Folge der Menschenexperimente der Nazis und menschenverachtenden Studien in den USA ging die Entwicklung vor allem in eine Richtung.
"Diese Forschungsethik-Maschine, die wurde immer größer, immer größer, immer größer. Es gibt mittlerweile Ethik-Codices nur für eine Profession, zum Beispiel Mediziner, die sind 100 Seiten lang. Jetzt zu sagen, man braucht hundert Seiten, um ethische Medizinforschung zu machen, heißt eben auch: Das ist was ganz Schwieriges. Das heißt nicht mehr: Es geht hier eigentlich nur darum, dass man die anderen Menschen ethisch behandelt. Und deswegen war das uns so wichtig, auf zwei Seiten bei dem globalen Kodex und auf zweieinhalb bei dem San-Kodex einfach nur zu sagen: Was kann man erwarten von Forschern, wenn die sich ethisch verhalten?"
Für EU-Projekte in ressourcen-ärmeren Ländern sei es jetzt verpflichtend, sich an den Kodex zu halten, sagt Doris Schröder, und 500 Millionen Euro seien schon unter dem Kodex vergeben worden. Wie der San-Kodex folgt auch der Globale Kodex den vier Prinzipien Fairness, Respekt, Ehrlichkeit und Fürsorge.
Globaler Verhaltenskodex für Forschung in Ressourcenarmen Gegenden, Aspekt "Fürsorge", ARTIKEL 15:
Wenn die Beteiligung an Forschung zu Stigmatisierung, Anschuldigungen, Diskriminierung oder unklaren persönlichen Risiken führen könnte, so sind besondere Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und des Wohlergehens der Forschungsteilnehmer mit den lokalen Partnern zu vereinbaren."
Wenn die Beteiligung an Forschung zu Stigmatisierung, Anschuldigungen, Diskriminierung oder unklaren persönlichen Risiken führen könnte, so sind besondere Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und des Wohlergehens der Forschungsteilnehmer mit den lokalen Partnern zu vereinbaren."
Wettbewerbsdruck in der Forschung begünstigt Ethik-Dumping
Auch wenn der Kodex die Schwelle niedrig legt, auch wenn er als Leitlinie dienen kann, die Fallstricke bei von Industrieländern finanzierter Forschung in Entwicklungs- und Schwellenländern zu vermeiden, löst das Dokument nicht die strukturellen Probleme der Wissenschaft, die zu Ethik-Dumping und kolonialen Verhaltensweisen beitragen. So stehen beispielsweise junge Forscher und Forscherinnen unter großem Druck, international Erfahrungen zu sammeln. Doris Schröder:
"Bis man es wirklich geschafft hat, ist ein wahnsinniger Wettbewerb. Das ist ein Wettbewerb um Forschungsgelder und Publikationen, um internationale Mobilität, um Sachen wie Herausgeber von Fachzeitschriften und so weiter. Und dann kann man auch schon mal eventuell erklären, wie das passiert, dass Sachen einfach zu schnell gemacht werden, ohne jetzt das Einverständnis von einer verarmten Gemeinschaft einzuholen. Also ich persönlich finde nicht, dass das eine Entschuldigung ist. Aber so kann man das möglicherweise erklären."
Hoffnung auf eine Zukunft mit dekolonisierter Wissenschaft
Andere Anreize könnten Verhaltensweisen ändern. Denkweisen ändern dürfte ungleich schwieriger sein. Ob die an den in dieser Sendung kritisierten Projekten beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler inzwischen anders denken, lässt sich nicht sagen. Jegliche Interviewanfragen blieben unbeantwortet. Generell sieht der kanadische Forschungsethiker Charles Weijer aber Fortschritte.
"Es gibt eine Menge Wissenschaftler, die hart daran arbeiten, koloniale Machtungleichgewichte zu überwinden und Chancengleichheit herzustellen, sodass auch Forscher aus einkommensschwächeren Ländern selbst Projekte leiten und deren eigene Prioritäten verfolgen können."
Das geschehe etwa in lange eingespielten Kooperationen von westlichen Universitäten mit Institutionen vor Ort. Im Gegensatz zur Helikopter-Forschung werden dabei dauerhaft Kapazitäten aufgebaut. Kollegen im Gastland werden auf Augenhöhe einbezogen. Es wird darauf geachtet, dass die Forschung auch vor Ort als relevant betrachtet wird. Charles Weijer:
"Das ist für mich die Zukunft. Eine Zukunft mit vollkommen dekolonisierter Wissenschaft."