Die Könige seien lange Zeit nur Trittbrett gefahren, interessiert an Gold, Gewürzen und Machtzuwachs, aber sehr zögerlich mit Investitionen, denn schon damals waren die Kassen knapp. Das ist eine der Thesen, die der Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard in seiner gerade erschienenen Gesamtschau des Kolonialismus vorlegt - mit dem Titel "Die Unterwerfung der Welt".
Überhaupt wird das Bild des Kolonialismus in der Forschung gerade revidiert. Denn neue Aspekte treten in den Vordergrund, wie etwa die Rolle der einheimischen Eliten, die mit den Kolonialherren beim Sklavenhandel kollaborierten. Außerdem beleuchten die Historiker das kurze Kapitel deutscher Kolonialherrschaft und seine langfristigen Folgen. Das war keine harmlose Episode, denkt man nur an den Völkermord an den Hereros in Namibia.
"Eigentlich besteht der Kolonialismus aus Bündnissen der europäischen und einheimischen Eliten zur Ausbeutung der einheimischen Unterschichten."
Wolfgang Reinhard, Historiker, Universität Freiburg.
"Die wichtigste erfolgreiche Sklavenrebellion, die in eine welthistorische Revolution umschlägt, ist die von Saint Domingue, also das heutige Haiti 1791 bis 1803. Plantagensklaven und freien Farbigen gelingt es, sowohl den französischen Kolonialismus wie auch die Sklaverei zu zerschlagen."
Michael Zeuske, Historiker, Universität Köln.
"Diese 30 Jahre, die der deutsche Kolonialismus dauert, führen zu erheblichen Veränderungen und Verwerfungen in den afrikanischen Kolonien …. und es führt in Deutsch-Südwest-Afrika, also in Namibia, zum ersten Völkermord des zwanzigsten Jahrhunderts."
Jürgen Zimmerer, Historiker, Universität Hamburg.
Der Kolonialismus und sein Erbe
Drei Stimmen von Historikern, die sich in der aktuellen Diskussion um den Kolonialismus und sein Erbe zu Wort gemeldet haben: Professor Wolfgang Reinhard, ein Nestor der Kolonialismusforschung bilanziert in seinem neuen Werk die "Globalgeschichte der Europäischen Expansion 1415-2015" unter der Überschrift "Die Unterwerfung der Welt".
Aber wie ist eigentlich diese Eroberung, die um 1900 mit der imperialistischen Inbesitznahme der letzten Winkel Afrikas ihren Höhepunkt erreichte, in Gang gekommen? Die neuere Forschung, so Reinhard, findet beim Aufbruch der westeuropäischen Akteure - Portugal, Spanien, der Niederlande, Frankreich und England - allen Unterschieden zum Trotz ein identisches Modell:
"Es gibt einen gemeinsamen Nenner, der besteht darin, dass das nicht von vornherein von Staats wegen betrieben wurde, sondern immer Privatinteressen am Anfang stehen, Netzwerke von ökonomisch, missionarisch, militärisch interessierten Leuten, denen es dann gelingt, die politischen Instanzen hinter sich zu bringen: Kolumbus war zunächst ein Privatmann und hatte große Schwierigkeiten, seine Idee zu vermarkten. Und erst allmählich springen dann die Monarchen auf und lassen die Leute erst einmal auf eigene Faust arbeiten, und erst allmählich engagiert sich die Krone, das ist das Modell, das immer wieder auftaucht."
Kollaboration als Muster für den Sklavenhandel
Den Entdeckern folgen Kaufleute, Missionare, Forscher und Abenteurer: Mutig, entschlossen, von sich selbst überzeugt, gierig nach Gold und Gewürzen, - das alles zeichnete die europäischen Ankömmlinge aus. Nur mächtig, das waren sie nicht. Selbst ein Eroberer wie Hernan Cortez hätte mit seinen wenigen Soldaten nicht das gewaltige Reich der Azteken, eine Hochkultur, besiegen können. Es gelang ihm jedoch, einheimische Gegner der Azteken auf seine Seite zu ziehen und unterworfene Völker kollaborierten zunächst.
Kollaboration ist auch das Muster, mit dem der gewaltige Sklavenhandel aus Afrika hinüber in die Neue Welt, die sogenannte "atlantic slavery", ermöglicht wurde, erläutert Professor Michael Zeuske. Zeuske lehrt Iberoamerikanische Geschichte an der Universität Köln und ist ein Experte in der Sklavereiforschung:
"Die Portugiesen bekommen in Westafrika am Anfang keinen Fuß auf den Boden, was den Kontinent betrifft. Sie können nur Inseln besetzen vor der westafrikanischen Küste. Und für ihre Dienste bekommen sie von den westafrikanischen Eliten Kriegsgefangene und Frauen. Die atlantic slavery ist eine Infrastruktur der Gewalt, die im Innern von Afrika losgeht. Also die Menschen werden im Inneren Afrikas verurteilt oder versklavt, werden dann an die Küste gebracht von den afrikanischen oder arabischen Eliten, werden dort an atlantische Händler, Leute aus Amerika oder Europa, also Sklavenhändler, verkauft, haben dann die Hölle auf den Schiffen, kommen dann in den Häfen Amerikas an und werden dort privat verkauft."
Kolonialismus und Sklaverei: zwei Seiten derselben Medaille
Der transatlantische Sklavenhandel war ein einträgliches Geschäft, das vom 16. bis ins 19. Jahrhundert in seinen Dimensionen der Entrechtung und Erniedrigung von Menschen alles geschichtlich Vorangegangene sprengte. In seinem Verlauf wurden zehn Millionen Afrikaner geraubt oder von schwarzen Stammesfürsten an die weißen Sklavenhändler verkauft.
Man schaffte sie in Ketten auf die berüchtigten Sklavenschiffe, dort wurden sie auf engstem Raum, zusammengepfercht wie Vieh, übers Meer fort in die Fremde geschafft. Zu den physischen Qualen kamen die psychischen. Die Verschleppten wurden auch seelisch gebrochen, aus ihren Familien, ihrer Heimat herausgerissen, die sie niemals wiedersehen sollten.
"Sie kommen zum Goldwaschen - das ist das Haupteinsatzforum am Anfang - oder Perlentauchen, also irgendwelche Schätze finden. Sie kommen relativ zeitig schon auf die Plantagen, also Zuckerplantagen, sie kommen in Bergwerke, dann kommen sie als Haussklaven in die großen Städte und Hafenstädte, und sie kommen als Staatssklaven - Königssklaven hieß das damals - in die Infrastrukturprojekte, also Straßenbau, Festungsbau, Hafenbau."
Kolonialismus und Sklaverei sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Die versklavten Schwarzen waren die Opfer, aber doch nicht so passiv und willfährig, wie sie von der älteren Forschung teilweise dargestellt wurden:
"Sklaven sind immer Akteure, egal wie stark die Versuche gewesen sind, sie zu brechen. Selbst bei massivstem Druck haben sich Sklaven mit Selbstmord gewehrt oder mit Aufständen, das heißt, Sklaven sind immer auch widerständig gewesen. Das reicht vom einfachen Widerstand, meist Flucht, allein oder in Gruppen, bis hin zu regelrechten Autonomiegebieten, wo geflohene Sklaven praktisch in Siedlungen, die eine bestimmte Bezeichnung haben, sich ansiedeln. Dann gibt es den Versuch, immer wieder Rebellionen zu machen, diese Rebellionen sind meist nicht erfolgreich, es sei denn die Kirche greift ein und sagt, in den Randgebieten könnten sie bleiben, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen."
50 Millionen Auswanderer zog es bis 1978 in die Neue Welt
In Haiti gelang es Sklaven und freien Farbigen 1791, das Joch der Knechtschaft abzuschütteln. Sie behaupteten sich 1804 auch gegen die von Napoleon entsandten Truppen und konnten der Kolonialmacht Frankreich die Unabhängigkeit abtrotzen. Haiti unterstützte die Freiheitskämpfe auf dem lateinamerikanischen Festland in Venezuela, Peru und Kolumbien.
Eine andere Kolonie, die USA, hatte schon länger ihre Unabhängigkeit erkämpft, ohne freilich die Sklaverei abzuschaffen. Wie ein Schwamm sogen die USA auswanderungswillige Europäer auf. Die ältere Migrationsforschung spricht von 36 Millionen, neuere Schätzungen sogar von 50 Millionen Auswanderern, die zwischen 1820 und 1978, also in einem Zeitraum von anderthalb Jahrhunderten, aus der Alten hinüber in die Neue Welt zogen. Die Deutschen stellten dabei mit 7 Millionen Auswanderern noch vor Italienern, Engländern und Iren das größte nationale Kontingent.
"Die USA haben sich sehr rasch als Erfolgsgeschichte entpuppt, und als sie anfingen, über den Kontinent zu expandieren, haben sie sich ausgesprochen attraktiv darstellen können. Man darf auch nicht übersehen: Diese Dinge haben so eine Art Ketteneffekt, das heißt, wenn einmal Auswanderer irgendwo sind, dann schreiben sie Briefe und haben Kontakte und ziehen andere nach, es gibt ganz wenige Menschen, die völlig isoliert auswandern, das sind immer Gruppenprozesse, und man rechnet heute mit ich weiß nicht wie viel Millionen Briefen, die aus Amerika nach Deutschland geschrieben wurden und das hatte eine ganz große Wirkung für die Auswanderung."
Hier drängen sich unweigerlich Vergleiche zur heutigen Flüchtlingswelle auf: Auch damals gab es politisch Verfolgte in Deutschland und Europa, aber die meisten waren doch das, was man heute verharmlosend Wirtschaftsflüchtlinge nennt. Denn die sozialen Verwerfungen der Industriellen Revolution, zugleich das enorme Bevölkerungswachstum, hatten ganze Dörfer ins Elend gestoßen.
Deutschland wurde 1884 offiziell Kolonialmacht
Die Auswanderer gingen aber nicht in die eigentlichen Kolonien, sondern wählten als Ziel die verheißungsvolle junge USA. Hier endet aber auch der Vergleich, denn die USA waren ein ausgesprochenes Einwandererland mit Platz und Bedarf für Neuankömmlinge - allerdings auf Kosten der indianischen Ureinwohner, die ausgerottet oder in Reservate zurückgedrängt wurden.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts teilen die europäischen Großmächte die letzten unbesetzten Gebiete der Welt unter sich auf. Und auch das Deutsche Reich wollte seinen Teil vom Kuchen, wollte Kolonialmacht werden. Bismarck hatte sich aus diplomatischer Rücksicht lange gesträubt, immer wieder erklärt, das Deutsche Reich sei saturiert, aber schließlich hat er dem Drängen der Wirtschaft nachgegeben. Prof. Jürgen Zimmerer, Historiker an Universität Hamburg, hat die deutsche Kolonialgeschichte erforscht:
"Deutschland selbst ist offiziell Kolonialmacht geworden 1884. Vorangegangen war dem die Reichseinigung 1871 und ein Anwachsen einer Kolonialbewegung in Deutschland, die den Besitz von Kolonien als Ausweis weltpolitischer Geltung sahen und gepaart damit die Handels- und Wirtschaftsinteressen von Kaufleuten, allen voran der Hamburger Handelskammer, die über die Hamburger Bürgerschaft ein Schreiben an Otto von Bismarck, dem Reichskanzler, verschicken ließ mit der Bitte, doch Gebiete in Westafrika zu deutschen Kolonien zu erklären und unter deutschen Schutz zu stellen. Als Folge kam es 1884/85 zur Schutzgebietserklärung von Kamerun, Togo, Deutsch-Ostafrika im heutigen Tansania und Deutsch-Südwest-Afrika, dem heutigen Namibia."
Namibia war dabei als eine Siedlerkolonie entworfen, wo Tausende, später Hundertausende Deutsche ansässig werden sollten. Aber das Kapitel deutscher Kolonialherrschaft war schon nach 30 Jahren zu Ende: Nach dem Ersten Weltkrieg musste Deutschland alle seine Kolonien abtreten. Und als dann im 20. Jahrhundert, in den 50er- und 60er-Jahren, die unterworfenen Länder ihre Unabhängigkeit erstritten, als die etablierten Kolonialmächte auf die Anklagebank gerieten, da schien Deutschland als unbeteiligter Dritter. Hierzulande blickte man lange Zeit regelrecht nostalgisch auf die kurze Kolonialzeit zurück. Unter dem Schleier dieser Verklärung verbarg sich aber auch ein grausames Verbrechen deutscher Kolonialherrschaft:
"1904 erheben sich zuerst die Herero und später auch die Nama gegen die deutsche Kolonialherrschaft und sind damit unerwartet erfolgreich. Es gelingt ihnen innerhalb von wenigen Wochen, fast alle Deutschen aus Südwestafrika zu vertreiben, nur die größeren befestigten Ortschaften können sich halten. Und hier kommt dann im Grunde Verstärkung aus dem Reich nach Südwestafrika, um diese Niederlage abzuwenden und die Herero für ihren Widerstand zu bestrafen.
Berlin entscheidet sich, einen erfahrenen, wenn auch umstrittenen Kolonialkämpfer zu schicken, der in Ostafrika durch seine Brutalität aufgefallen war: General Lothar von Trotha. Seine Devise: 'Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme in Strömen von Blut und Strömen von Geld. Nur auf dieser Aussaat kann etwas Neues entstehen.'"
Völkermord an den Herero: grausames Verbrechen deutscher Kolonialherrschaft
Lothar von Trotha fährt mit seinem Expeditionschor nach Südwestafrika. Im August 1904 bietet sich dem General die Gelegenheit zur entscheidenden Schlacht:
"Die Herero haben sich alle zurückgezogen in ein Hochplateau im zentralen Namibia am sogenannten Waterberg. Von Trotha möchte eine Kesselschlacht schlagen. Den Herero gelingt es aber, diesen Kessel zu verlassen und nach Nordosten zu flüchten in die weitgehend wasserlose Omaheke-Wüste, das ist das Trockengebiet zwischen dem heutigen Botswana und Namibia. Von Trotha lässt dann dieses Trockengebiet durch seine Soldaten abriegeln und verhindert, dass die geflohenen Herero, vor allem Frauen, Kinder, alte Leute, wieder dieses Trockengebiet verlassen und an die rettenden Wasserstellen gelangen können. Und in dieser Wüste verdursten Tausende, Zehntausende von Herero."
Ob dieses Verbrechen, dieser erste Völkermord des 20. Jahrhunderts, so Jürgen Zimmerer, auch offiziell Völkermord genannt werden darf, darüber gibt es aktuellen politischen Streit. Bundestagspräsident Jürgen Lammert schrieb im vergangenen Sommer in der "Zeit" von einem Genozid an den Herero. Aber noch immer fehlt ein offizielles Wort von den höchsten politischen Vertretern, von der Bundeskanzlerin oder dem Bundespräsidenten, - wohl nicht zuletzt, weil man finanzielle Forderungen nach Entschädigung fürchtet.
Kritische Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit
Im größeren Zusammenhang aber geht es darum, eine kritische Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit fortzusetzen. Und nirgendwo sonst ist die 500-jährige Geschichte des Kolonialismus so präsent wie in der Handelsmetropole Hamburg, Deutschlands Tor zur Welt. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten in der Stadt entschloss sich der Senat, diese Arbeit zu unterstützen, auch auf dem Feld der Wissenschaft: Prof. Jürgen Zimmerer:
"Hamburg hat im Zuge dieses Beschlusses, das koloniale Erbe aufzuarbeiten, eine Anschubfinanzierung geleistet für eine Forschungsstelle 'Hamburgs postkoloniales Erbe', und Teil dieser Anschubfinanzierung ist ein Stipendienprogramm, wo eine Doktorandin aus Hamburg und ein Doktorand aus Daressalam in Tansania gemeinsam hier bei uns in Hamburg forschen und arbeiten, und praktisch von Anfang an in der alltäglichen Auseinandersetzung die Perspektive Tansanias einbringen."