Mitte Oktober, über dreißig Grad. Die Venezolanerin Maria weint. Soeben hat die 65-Jährige die gefährliche und beschwerliche Strecke bis zum illegalen Grenzübergang von Venezuela nach Kolumbien hinter sich gelassen. Ist angekommen im Nordosten, in der Grenzstadt. Ohne Nahrung dafür mit viel Verzweiflung im Bauch.
"Ich bitte Gott darum, dass er uns hilft. Dass Gott Venezuela hilft. Das ist es, was mich jeden Tag antreibt. Es gibt nichts bei uns, nichts! Ich bitte Gott darum, dass er uns hilft, dass er Venezuela hilft, darum bitte ich!"
Maria will nicht in Kolumbien bleiben. In Caracas warten Haus und Kinder auf sie. Die kleine untersetzte Frau mit der türkisgrünen Bluse, dem Jeansrock und den Turnschuhen trampt regelmäßig fünf Stunden lang zur Grenze, um sich ihre Medizin zu holen. Denn die gibt es nicht mehr im Reich von Präsident Maduro.
"Die Wege sind weit, die Fahrtkosten sind hoch. Aber es gibt dort nichts. Gar nichts. Man kann dort nicht leben. Wir haben zu Hause einfach nichts. Ein Kilo Käse kostet 50 000 Bolivar. Die Leute verhungern, die sind ganz abgemagert, sie sterben."
Maria hat einen Pass und könnte auch einen legalen Grenzübergang benutzen statt diese illegale sogenannte "Trocha" - die Grenze nach Kolumbien ist nach wie vor durchlässig. Der Weg, den sie nimmt, ist gefährlich: Denn im Grenzgebiet - und zum Teil auch deutlich jenseits der Grenze - sind Gruppen der marxistischen ELN, der "Nationalen Befreiungsarmee" sowie auch FARC-Dissidenten aktiv, Überbleibsel der "Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens". Der linken Guerilla, die nach jahrzehntelangen zähen Kämpfen vor drei Jahren ihre Waffen niederlegte und ein Friedensabkommen mit der Regierung aushandelte. Doch noch mehr Angst als vor der ELN und der FARC und möglichen Überfällen durch Kriminelle, hat Maria vor ansteckenden Krankheiten und der sengenden Sonne auf der dreihundert Meter langen Brücke Simón Bolívar, dem legalen Grenzübergang ganz in der Nähe.
Illusion von Hoffnung und Sicherheit
Flüchten auf Rädern - Massen von Rollkoffern werden geschäftig über den Beton gezogen. Schwere Taschen und kleine Kinder liegen auf schwitzenden Schultern. Menschen mit gestressten Gesichtern wechseln hier seit sechs Uhr morgens eilig die Seite, rechts geht’s rein nach Venezuela, links raus. Seit 2017 kommen im Schnitt 35- bis 70.000 Venezolaner pro Tag. Achtzig Prozent des legalen Grenzverkehrs zwischen beiden Ländern wird auf der Brücke Simón Bolívar abgewickelt, einem von vier legalen Grenzübergängen. Die kolumbianischen Sicherheitskräfte kontrollieren leger. Padre Elbert Roja von der Diözese Cúcuta:
"Sie reisen aus mit der Illusion einer neuen Hoffnung, mit der Illusion, Sicherheit für ihr Leben und für ihre Kinder zu finden. So ist es, das ist unser täglich Brot seit zwei Jahren. Traurigerweise stellt sich keine Besserung ein. Ganz im Gegenteil: die Zahl der Venezolaner, die ausreisen, steigt täglich. Einige bleiben in Cúcuta, andere gehen in weitere kolumbianische Städte oder in andere Länder in Lateinamerika."
Nach aktuellen Zahlen der "Organisation Amerikanischer Staaten" OAS haben mittlerweile 4,6 Millionen Venezolaner ihre Heimat verlassen. Kolumbien hat mit 1,6 Millionen die meisten Migranten aus dem Nachbarland auf seinem Territorium aufgenommen, gefolgt von Peru, den USA und Chile.
"Was Kolumbien wirklich gut hinbekommt, ist diese Politik gegenüber den Migranten. Da haben die eine absolut bewundernswerte Politik, die versucht, diesen Leuten hier Möglichkeiten zur Arbeit und zum Leben zu geben. Aber ich finde, der Großteil der kolumbianischen Gesellschaft geht damit wirklich sehr verantwortungsbewusst und solidarisch zum Teil sogar um," sagt Professorin Sabine Kurtenbach vom Giga-Institut für Lateinamerika-Studien.
Einer der Macher dieser Politik ist Felipe Muños. Er ist der Regierungs-Beauftragte für die venezolanisch-kolumbianische Grenze. Felipe Muños spricht von historischer Verantwortung, von ethischer Motivation und notwendiger Integration:
"Die Politik von Präsident Duque zielt darauf ab, die venezolanischen Migranten zu unterstützen und die Grenze offen zu halten. Wir zahlen dafür politisch und ökonomisch einen hohen Preis. Doch so ist die Politik der Regierung. Das ist die Entscheidung, die Kolumbien getroffen hat."
Koka, Gold und Umweltverschmutzung
Die Zustimmungswerte für diese Politik der konservativen Regierung Duque sind von siebzig Prozent vor einem Jahr auf aktuell unter fünfzig gefallen. "Die Geduld geht langsam zu Ende" sagt Felipe Muños. Und das nicht nur hier: Am vergangenen Donnerstag protestierten mehrere hundertausend Menschen in ganz Kolumbien gegen Gewalt gegen Indigene und Aktivisten, gegen Korruption sowie gegen die Arbeitsmarkt- und Rentenreformpläne von Präsident Duque. Der reagierte prompt:
"Wir hören Euch. Der soziale Dialog ist ein zentrales Anliegen dieser Regierung. Wir werden ihn in jedem Bereich unserer Gesellschaft vertiefen, unsere soziale Agenda beschleunigen ebenso wie den Kampf gegen die Korruption."
Nicht überall in Kolumbien wird man ihm das glauben.
Über 800 Kilometer Luftlinie entfernt - mit dem Schnellboot durch den Regenwald auf dem kurvenreichen Rio Atrato, der Hauptverkehrsader der Provinz Chocó im Nordwesten Kolumbiens. Diese Dschungelregion zählt zu den ärmsten des Landes, in den Dörfern leben mehrheitlich Afro-Kolumbianer. Sie ernähren sich vom Fischfang, vom Holz, vom Zuckerrohr, aber auch vom Gold-Ab- und vom Koka-Anbau, oft ein lukrativeres Geschäft als die konventionelle Landwirtschaft.
Aus Chocó stammt auch die Band Choc Quib Town, die von dem "pescao envenenao", dem vergifteten Fisch singt. Die Seitenarme des trüben Atrato-Flusses, der Richtung Karibisches Meer fließt, sind durch die Goldsucher bereits quecksilberverseucht, der große Strom ist auch bereits kontaminiert, die eingeleiteten Abwässer und Abfälle erledigen den Rest. Kinder, die hier baden, bekommen Pusteln auf der Haut.
Viereinhalb Fahrtstunden später, flussaufwärts. Angekommen in dem Verwaltungsbezirk Bojayá, der nach dem gleichlautenden Seitenarm des Rio Atrato benannt wird. Aber der Name Bojayá bedeutet heute noch viel mehr in Kolumbien.
Schlimmstes Massaker in über 50 Jahren Bürgerkrieg
Ein Film, der die brutale Realität im Mai 2002 in Bojayá beschreibt: Kämpfe schon am 1. Mai, erste Schüsse dann am 2. Mai im Morgengrauen: Es entwickelt sich ein heftiges Feuergefecht zwischen der linken FARC-Guerilla und den rechten Paramilitärs. Und dann um halb elf passiert das, was Bojayá zum traurigen Synonym für das schlimmste Massaker in über fünfzig Jahren Bürgerkrieg mit seinen mehr als 260.000 Toten macht: Es fliegt eine Bombe durch das Dach der Dorfkirche, in der sich schon am Abend zuvor 300 Menschen schutzsuchend verschanzt haben. 79 von ihnen kommen ums Leben, darunter 44 Kinder.
Heute – 17 Jahre später – ist von all dem übriggeblieben: Ein Gespensterdorf mit einer Kirche als Erinnerungsort. Denn seit 2007 wohnt hier niemand mehr.
"Wir sind hier in dem alten Dorf, das mittlerweile verlassen ist, weil von der Regierung ein neues Dorf gebaut wurde. Was hier noch zu sehen ist, sind die Ruinen von der alten Schule, von der einzigen Bank, die es im Umkreis von hundert Kilometern gab. Hier, das ist die Kirche, wo damals die Bombe eingeschlagen ist, die ist wieder restauriert worden, daneben das Pfarrhaus und daneben die Ruine vom Gesundheitsposten."
Nachdenkliche Augen, die schon viel gesehen haben - Ulrich Kollwitz ist seit vierzig Jahren Priester und seit zwanzig Jahren Menschenrechtsaktivist in Quibdo, der Hauptstadt von Chocó. Nur der Boden der schlichten Kirche ist der Gleiche geblieben wie damals, auf Wunsch der Angehörigen.
"Wir konnten die Kirche nicht verlassen, weil wir so schwer verletzt waren. Ich konnte gar nicht aufstehen, ich habe überall geblutet, auch aus dem Mund. Ich war unfähig, mich zu bewegen. Und dann kam ein junges Mädchen, um ihre Familie rauszuholen und ich habe ihr meine Zweijährige übergeben, die war auch verletzt, aber nicht so schlimm. Ich habe ihr gesagt, sie soll sie den Schwestern geben, weil die mich schon kannten. Ich wusste ja nicht, ob ich noch rauskomme oder nicht."
Gewalt von FARC, Paramilitärs, organisierter Kriminalität
Marcária Allin war nach dem Massaker, das sie und ihre beiden Töchter in der Kirche erlebten, traumatisiert. Staatliche psychologische Hilfe gab es nicht für die Opfer. Nur einzelne Schwestern aus der Kirche unterstützten sie. Die FARC übernahmen erst vor vier Jahren die Verantwortung für diese Bluttat. Doch das Wort "perdón", "Verzeihung" kam ihren Vertretern auch damals nicht über die Lippen. Für Marcária sitzen die eigentlich Schuldigen sowieso nicht im Dschungel sondern in Bogotá:
"Die Regierung hat unsere Stimme nie gehört. Statt uns rauszuholen, hat das Militär die Paramilitärs rausgebracht, indem sie ihnen unsere Klamotten gegeben haben, so dass sie unerkannt verschwinden konnten."
Längst vergessene Zeiten? Mitnichten. Gerade erst haben die Paramilitärs unweit von hier einen Campesino, einen Bauern erschossen, weil sie ihn irrtümlicherweise für einen Guerillero hielten. Immer mehr Paramilitärs und kriminelle Gruppen marschieren in die Gebiete der afrokolumbianischen und indigenen Gemeinden. Dorthin, wo die FARC weggegangen ist und der Staat die dadurch entstandene Leerstelle nicht gefüllt hat. Der ungelöste historische Konflikt Kolumbiens ist und bleibt der Konflikt um die gerechte Verteilung von Land sowie die extreme Ungleichheit zwischen Stadt und Land, sagt die Politikwissenschaftlerin Sabine Kurtenbach vom Giga-Institut:
"Die Regierung – Santos auch schon – die haben gewusst, dass dieser Tag X kommen wird, wo sich die FARC in bestimmten Zonen konzentrieren. Und dass es nicht nur die FARC als Gewaltakteure gab, sondern eben auch noch Paramilitärs, Neoparamilitärs, organisierte Kriminalität, ELN. Dann muss ich doch gerade in den Gebieten Präsenz zeigen mit den staatlichen Kräften."
Seit dem Friedensvertrag vom Dezember 2016, riskieren diejenigen, die als Aktivisten und Führer sozialer Bewegungen für einen Wandel und für Reformen kämpfen, ihr Leben. Die Zahl der Morde nimmt aktuell drastisch zu. Die Gemeinden vor Ort müssen sich sehr gut organisieren, um Gegenwehr zu leisten, sagt Padre Ulrich Kollwitz.
"Wir haben hier auch einige Fälle. Zum Beispiel ein Indianerführer ist auf der Straße erschossen worden vom Militär. Eine Frau, in einem Stadtviertel, die Führerin von der "Action communales", Bürgerinitiative, also Selbstverwaltung des Stadtviertels, die ist auch erschossen worden, weil sie sich gewehrt hat gegen die Schutzgeldzahlung an eine Bande."
Viele fühlen sich vom Präsidenten verraten
Zur ganzen Wahrheit gehört aber, dass bei dieser Mordserie auch über einhundert ehemalige Kämpfer der FARC-Guerilla umgebracht wurden. Was es zusätzlich schwierig machte für die Ex-Guerilleros unter ihnen, die auf dem zivilen Weg des Friedensvertrages bleiben wollten. Unter Führung von FARC-Anführer Iván Márquez verkündeten ehemalige Rebellen am 29. August vor laufenden Kameras - die Waffen martialisch im Anschlag - die Rückkehr zum bewaffneten Kampf. Eine Aktion, die in den Medien weltweit große Wellen schlug:
Die Rückkehr "zum Guerillakampf" sei die "Antwort auf den Verrat des Staates gegenüber dem Abkommen von Havanna" begründet FARC-Guerillero Márquez seine Entscheidung und die von 2.000 Mitstreitern. Dabei war es doch Márquez selbst, der bei der Aushandlung des Friedensvertrages in Kubas Hauptstadt eine tragende Rolle gespielt hatte. Eine Farce und kein Frieden – so empfinden es viele Rebellen, die sich drei Jahre später verraten fühlen von der Regierung von Präsident Duque.
Und sie sind derzeit nicht die Einzigen in Kolumbien, die ihm vorwerfen, an der Umsetzung des Friedensvertrages gar kein Interesse zu haben, ja ihn zu boykottieren. Die neu-erklärten FARC-Kämpfer wollen den Konflikt zurück und so die gesellschaftlichen Veränderungen erreichen, die das südamerikanische Land so dringend braucht. Mit Aussicht auf Erfolg?
"Da ist die kolumbianische Gesellschaft super gut mit umgegangen. Also nicht mal die Regierung hat gesagt, damit ist das für uns beendet, sondern alle haben gesagt: ne, ne, jetzt lasst uns mal zusammenstehen, das wollen wir nicht. Wobei das Problem ist, in manchen Argumenten haben sie ja durchaus recht. Die Regierung hat viele Sachen nicht geliefert, die sie zugesagt hat."
Die Wut der Bürger auf den unfähigen Staat
Der mangelnde Reformwille schürt Unzufriedenheit in einem Land, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich zementiert zu sein scheint.
Die Wut auf den unfähigen Staat, der seine Bürger im Stich lässt, ist am nächsten Tag einhundert Kilometer weiter nördlich von Bojayá, in Quibdo zu hören, einer 120.000 Einwohner-Stadt mit durchschnittlich 130 Morden im Jahr. Hunderte Demonstranten mit weißen T-Shirts und Hemden ziehen an diesem sonnigen Mittwochvormittag mit Plakaten und Fotos durch die Innenstadt und fordern "Gesundheit, Bildung und Arbeit."
"Die andauernde Gewalt wollen wir überwinden", so dröhnt es aus den Lautsprechern. "Die Kinder sind nicht für den Krieg". Sie sprechen Marcária Allin, die das Massaker von Bojayá überlebte, aus dem Herzen: denn sie hat siebzehn Jahre später wieder Angst, obwohl sie äußerlich gefasst wirkt.
"Wir sind alarmiert und wir bitten Gott, dass nicht wieder etwas passiert. Wir sind praktisch auf demselben Stand wie vor siebzehn Jahren: wir leben in Angst und Schrecken. Wir wissen nicht, ob wir schlafen können oder nicht. Und das denken wir uns nicht aus, das sind Tatsachen. Gerade haben sie doch einen Compañero ermordet. Die Wahrheit ist: es hat sich nicht viel verändert. Die Regierung sagt zwar, es passiert hier nichts, aber wir, die wir hier leben, wissen genau, was passiert."
"Reste der FARC hätten den Krieg gerne wieder"
Für Valentina Figerua ist der Krieg – heute wie damals – weit weg. Und trotzdem ist er an diesem Nachmittag ihr Thema. Die neunzehnjährige Studentin steht in Bogotá, in Kolumbiens Hauptstadt vor, besser gesagt auf dem Denkmal von Doris Salcedo: die kolumbianische Künstlerin ließ 8.000 Gewehre der FARC einschmelzen, die zu Bodenplatten für diese Gedenkstätte namens "Fragmentos" zusammengehämmert wurden. Ein Mahnmal für den Bürgerkrieg – und zugleich eine Metapher dafür, dass Krieg und Hass überwunden werden können. Valentina ist sichtlich beeindruckt.
"Es gibt noch viele Guerilleros und es gibt noch Reste der FARC. Und die hätten den Krieg gerne wieder, weil es für sie von Vorteil ist. Und es ist in der Tat auch schwierig, sich in die Gesellschaft zu integrieren, wenn man Guerillero war. Es gibt viele Hindernisse für die Ex-Guerilleros, wenn sie Arbeit finden und sich bilden wollen. Unter ihnen gibt es viele, die nicht lesen und schreiben, sondern nur mit Waffen umgehen können. Es ist also schwierig für sie und für uns. Wir wissen nicht, wie wir ihnen helfen können und es fehlt uns an Empathie."
Mehr Empathie, mehr Vergebung, weniger Krieg – eine klare Ansage für ein Land, das über fünfzig Jahre einen Bürgerkrieg erlebt und hinter sich gelassen hat. Und sich seit drei Jahren zumindest einen Minimalfrieden bewahrt – allen Vorhersagen zum Trotz.
Die Recherche für die Reise nach Kolumbien wurde unterstützt von Adveniat, dem Lateinamerika-Hilfswerk der Katholiken in Deutschland.