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Kolumbien
La Candelaria und die zwei betagten Damen

Noch vor wenigen Jahren galt "La Candelaria" als No-go-Area in Kolumbiens Hauptstadt Bogota. Hinter den Kolonialstil-Fassaden tun sich kleine Off-Theater, Künstlerwohnungen, Konzertsäle und schicke Friseursalons aus - das Viertel ist richtig hipp. Zwei betagte Damen symbolisieren dabei den Wandel.

Von Anna Marie Goretzki |
    Der Präsidentschaftspalast in Bogota, Kolumbien
    Der Präsidentschaftspalast in Bogota, Kolumbien (picture alliance / dpa)
    "Wenn ich ein Taxi nehme und der Fahrer mich fragt: Leben Sie in der Candelaria, sage ich: Ja. Und er antwortet: Ui, als ich noch ganz, ganz klein war, bin ich immer im Lädchen von Doña Gracielita Eis essen gegangen. Heute sind das alte Leute."
    Der Maler Guillermo Londoño steht im Lädchen von Doña Graciela. Seit 80 Jahren verkauft die alte Dame hier alles, was in La Candelaria so gebraucht wird: Schuhcreme und Scheuermilch, Limetten und Limonaden, Avocados und eben Eis. Ihr Alter schätzt Doña Graciela so auf etwas um die 100 Jahre. So ganz genau weiß das niemand. Guillermo Londoño, der Künstler, ist einer ihrer besten Kunden. Er wohnt gleich nebenan und kommt fast täglich auf einen Schnack in dem Laden mit den blau getünchten Wänden, gläsernen Vitrinen und dem unermüdlich flimmernden Fernseher vorbei.
    "Jeder kennt mich. Jeder aus dem Viertel!"
    "Wenn jemand La Candelaria kennt, kennt er auch Gracielita."
    Doña Graciela wuchs in La Candelaria auf, ist hier in dem Viertel, das sich an den Hang des Hausberges von Bogotá schmiegt, groß geworden und hat seine Verpuppung von der No-go-Area zur Touristenattraktion miterlebt. Der Wandel vollzog sich in den letzten fünf bis zehn Jahren. Hinter den Ecken und Biegungen der kopfsteingepflasterten Straßen von Bogotás kolonialem Stadtzentrum taten sich damals Gefahren auf, Diebstähle, Raubüberfälle waren gängig, die Häuserfassaden zerbröselten, nachts war das Viertel aufgrund fehlender Straßenbeleuchtung dunkel.
    Und dennoch: Verehrer und Bewunderer hatte La Candelaria schon immer. Die kolumbianische Rockband "Distrito Especial" widmete Bogotás Barrio mit den steilen Straßen ein ganzes Lied voller Erinnerungen an eine Kindheit in "La Candelita", wie sie das Viertel liebevoll besingen.
    Heute fallen die Blicke der Besucher auf bunte Fassaden, in immer neuen Farbvarianten gestrichen. Nicht nur das Farbspiel und die Entrücktheit vom Rest der Metropole machen La Candelaria für den Maler Guillermo Londoño zu einem kreativen Lebensraum. Auch die Nachbarschaft trägt dazu bei. Einen Straßenzug den Hang hinab führt er zum Grundstück des kolumbianischen Architekten Simón Vélez. Dieser ist weltweit für seine Gebäude und Brücken aus Guadua-Bambus bekannt.
    "Ich lebe gerne hier. Ich bevorzuge es, hier arm zu sein als im Norden der Stadt. Die Armut fällt hier weniger auf. Hier lebt man wie in einem Dorf. Es ist die echte Stadt, weil es hier alles gibt. Und das Land wird von dort aus regiert. Wir befinden uns hier drei Straßenzüge entfernt vom Machtzentrum des Landes."
    Und tatsächlich: Von der Terrasse des Architekten-Hauses fällt der Blick auf la Plaza Bolívar, an den der Präsidentenpalast grenzt. Von hier oben wird deutlich, dass der bedeutendste Platz Kolumbiens direkt zu Füßen des Gassenwirrwarrs der Candelaria liegt. Der Architekt Simón Vélez hat sich in La Candelaria ein Reich aus Schlingpflanzen, großblättrigen Gewächsen und zahlreichen bambusgestützen, architektonischen Wunderwerken geschaffen. Hierhin zieht er sich zurück wenn er von einer seiner vielen Reisen heimkehrt.
    "Als ich zum Studium herkam fand ich die Gegend sehr anziehend, weil ich ein Hippie war. Aber ich bin ein Hippie, der Golf spielt und kein Marihuana raucht. Aber ich bin Hippie! Und für einen wie mich ist das eine hübsche Gegend zum Leben.”
    Simón Vélez, der gealterte Hippie mit dem kolumbianischen Sombrero auf dem dunklen Haar, schlägt die Terrassentür zu, kehrt in sein Kaminzimmer zurück, dessen Decke von aufeinander zu strebenden Bambusstangen getragen wird. Sein Haus, das er selbst entworfen hat, unterscheidet sich stark von den meist einstöckigen Häusern der Candelaria.
    "Diese Stadt hinterließen die Spanier. Die Spanier, die hier herkamen, waren arme Leute. Keine Kaufleute oder wichtige Personen. Deswegen ist die Architektur hier so einfach – und so schlecht. Aber sehr hübsch.”
    Simón Vélez ist einer der bekannteste Bewohner der Candelaria. Mit seiner Bambus-Architektur hat er sich nicht nur auf seinem eigenen Grundstück verewigt. Auch im wahrscheinlich ungewöhnlichsten Friseursalon der Stadt hat er seine Spuren hinterlassen. Ein mit rosa Kreide beschriebenes Schild lockt neugierige Besucher auf der dritten Carrera, einen Blick in den Haarsalon zu werfen: Willkommen bei den mordenden Friseurinnen. Wem der Mut zum Eintreten gegeben ist, dem fällt als Erstes die Guadua-Bambus-Architektur des Dachs auf. Das Markenzeichen Simón Vélez'. Der Salon ist gleichzeitig Kunstgalerie, Kleiderladen und Café. Auf mächtigen Stühlen sitzen zwei junge Bogoteñas, die einen Kurzhaarschnitt wagen. Eine der Spezialitäten von "Las peluqueras asesinas", erklärt Daniela Wong, die am blau gestrichenen Tresen die Gäste empfängt:
    "Die Idee war, nicht einfach einen Friseursalon zu eröffnen, einen normalen, mit klassischen Schnitten. Sondern einen Ort, wo die Leute hinkommen können und sagen: Ich will eine radikale Kurzhaarfrisur. Wenn du mit diesem Wunsch in einen konventionellen Laden kommst und langes Haar hast, werden sie dich wegschicken. Außerdem wollten wir hier Frisuren designen."
    La Peluqueria steht exemplarisch für den Wandel der Candelaria. Vor sechs Jahren fusionierten die Gründerinnen hier Art Space mit Haircut. Vorher wäre das kaum möglich gewesen. Nur wenige Personen, die nicht aus La Candelaria selbst waren, hielten sich hier auf. Der Ruf des Viertels war denkbar schlecht. Das hat sich geändert und La Peluqueria spiegelt heute die große Besuchervielfalt des Barrio wieder:
    "La peluqueria ist nicht nur für eine bestimmte soziale Schicht. Nein! Wir haben hier alle möglichen Leute: Studenten, Praktikanten, Hausfrauen, Schüler, Rechtsanwälte, Regierungsangestellte. Viele Leute aus der ganzen Welt. Nicht nur hier aus Bogotá, Kolumbien. Vielen Leuten aus aller Welt wurde die Peluqueria empfohlen – sie kommen sogar aus China oder Japan. Ja, von überall."
    Der Kurzhaarschnitt einer der beiden Bogoteñas ist fertig. Die junge Lehrerin steht vor dem einzigen Spiegel des hippen Salons:
    "Jetzt sehe ich mich zum ersten Mal im Spiegel. Um ehrlich zu sein: Es sieht total anders aus als ich erwartet hätte, aber super cool! Gefällt mir ziemlich gut!"
    Und warum eigentlich "mordende Friseurinnen"? Na, weil man hier einfach loslegt, zack, zack, lacht Daniela Wong und kehrt die Locken des letzten Opfers zusammen.
    Ein paar Häuser das geschwungene Sträßchen den Berg hinauf liegt ein kleiner zerzauster Hund auf dem Bürgersteig und bewacht mehr pflichtbewusst als engagiert die Dependance von "Bogotá Bike Tours". Ähnlich wie "La Peluqueria" bietet "Bogotá Bike Tours" ein Füllhorn an Serviceangeboten: Fahrradwerkstatt, Bücherbörse, Touri-Information und eben Bike Tours. Soeben ist eine Gruppe internationaler Touristen mit Guide davon geradelt. Bewaffnet mit Helmen, Klingeln, Regenjacken und Sonnenbrillen. In Bogotá muss man für jedes Wetter gewappnet sein. Im Inneren des Ladens lehnen ein Dutzend Fahrräder an den Wände. Eines davon gehört dem Literaturstudenten Daniel, der seinen Joghurt löffelt, während der Mechaniker die letzten Schrauben festzieht.
    "Ich bin hergezogen, weil es gibt hier ein starkes kulturelles Leben. Ich studiere Literatur. Es gibt ein freies Theater, das Theater La Candelaria, ein Haufen kultureller Sachen, Bibliotheken. Ich wollte in keinem anderen Viertel leben. Bin sehr zufrieden hier."
    So geht es auch Pascal Läufle. Der gelernte Schweizer Schreiner hat La Candeleria ebenfalls zu seinem Wohnsitz auserkoren. Gemeinsam mit einem Schweizer Freund entschloss er sich – nach vielen Monaten auf Reisen durch Zentral- und Südamerika – nicht nach Europa zurückzukehren. Die beiden eröffneten vor drei Jahren in La Candelaria eine Bäckerei/Pastisserie und ein kleines Hotel. "La Vieja Suiza", die alte Schweizerin, haben sie ihr Unternehmen genannt. Schweizer Fähnchen wehen vor dem Geschäft im Wind. Pascal Läufle steht hinter der Glasvitrine, die als Straßenverkauf dient:
    "Nach Rezepten von der Schweiz, aber halt fusioniert mit Früchten von hier. Zum Beispiel Maracuja-Frucht, das kriegst du ja bei uns extrem teuer. So eine Mischung zwischen Schweizer Produkten, deutschen Produkten, kolumbianischen Produkten. Wir haben auch so Roggenbrot mit Nüssen, Integralbrot, Mehrkornbrot. Das hat alles ein bisschen Eingewöhnungszeit gebraucht. Aber jetzt, die Leute verzichten nicht mehr darauf. Der größte Teil sind kolumbianische Einheimische, Nachbarn und alles, aber natürlich auch Ausländer, die wieder mal einen Brezel sehen nach weiß ich wie viel Monaten. Oder einen Schokogipfel."
    Pascal Läufle widmet sich wieder seinen Kunden. Zwei betagte Damen stehen für den Wandel in La Candelaria. Doña Graciela, weiter oben, den Berghang hinauf in ihrem kleinen Lädchen, verkörpert die Erinnerungen an die alte Candelaria. La vieja suiza, die alte Schweizerin, zeigt das neue Gesicht eines Viertels, das drohte, in Vergessenheit zu versinken.