"Heute sage ich meinem Land und der Welt: Ich hege keinen Hass und keine Wut mehr, weil mein Herz heilen konnte."
Geschafft hat das Teresita Gaviria, weil sie die Hoffnung nie aufgab. Ihr Sohn Cristian verschwand spurlos von der Bildfläche, als er von Medellín zum Studieren nach Bogotá fuhr. Jahrelang konnte Teresita nichts in Erfahrung bringen, bis ein inhaftierter Paramilitär das Geheimnis lüftete:
"Das war einer der Jungs, die der Boss zerstückeln ließ, sagte er. Die Reste haben wir in den Fluss, den Magdalena, geworfen. Als ich das hörte, bin ich raus zur Staatsanwaltschaft gelaufen und habe geschrien: Am liebsten würde ich dich schamlosen, ekelhaften Kerl selbst zerfleischen, aber das bist Du nicht wert! Ich wollte, dass die Erde sich auftut und mich verschluckt, weil ich den Schmerz nicht aushalten konnte."
Viele Mütter in Kolumbien suchen verschwundene Angehörige
Schlimmer als der Schmerz war freilich zuvor die Ungewissheit. Jetzt, da Teresita Gaviria weiß, was mit ihrem einzigen Sohn passiert ist, kann sie trauern, vergeben und anderen helfen. Die kleine, lebhafte Frau hat die "Madres de la Candelaria", eine Organisation von 900 Müttern, gegründet, die alle nach verschwundenen Angehörigen suchen. Und davon gab und gibt es sehr viele in Kolumbien.
"Das nationale Zentrum für historisches Gedenken hat ausgerechnet, dass man fast 83.000 Personen in Kolumbien zwischen 1958 und 2016 gewaltsam hat verschwinden lassen. 30.000 davon sind entführt worden und 17.000 wurden zwangsrekrutiert. Im Grunde können wir von rund 100.000 Verschwundenen sprechen, ohne die im bewaffneten Kampf Verschollenen zu zählen."
Luz Marina Monzón ist Direktorin der "Unidad de búsqueda de personas desaparecidas", einer im Rahmen des Friedensvertrag mit den FARC geschaffenen Institution. Die Aufgabe der "Sucheinheit nach Verschwundenen" umschreibt Luz Marina Monzón so: "die Suche nach Menschen, die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt verschwunden sind, in einem humanitären, nicht strikt rechtlichen Rahmen".
Leichensuche anhand von DNA-Proben
Zuvor lag es allein in der Hand der Staatsanwaltschaft, nach entsprechenden Anzeigen die Suche nach Verschwundenen aufzunehmen. Die vor gut einem Jahr gegründete Einheit bündelt nun die Aktivitäten, arbeitet eng mit der Staatsanwaltschaft, der forensisches Medizin und der im Zuge des Friedensabkommens eingerichteten Wahrheitskommission zusammen. Sie soll vor allem als Anlaufstelle für Angehörige dienen. Von 115 soll die "Unidad" auf 300 Mitarbeiter aufgestockt werden, um auch in den entlegeneren Landesteilen Präsenz zu zeigen.
"Das ist entscheidend, denn so können wir näher bei den Angehörigen, an den Orten sein, wo die Suche stattfindet. Das ist eine Herausforderung für Kolumbien. Wir müssen zeigen, dass der Staat nicht nur in der Hauptstadt Bogotá aufgebaut wird, sondern auch in den kleinen Gemeinden, wo diese Dinge passiert sind."
In 2.100 konkreten Fällen ist die "Unidad" bereits aktiv, untersucht gemeinsam mit Staatsanwaltschaft und Gerichtsmedizin Leichen auch anhand von DNA-Proben.
Sonderausschuss der Vereinten Nationen
Ist Kolumbien zu einer Art Vorreiter geworden? Seit Jahren bemüht sich ein Sonderausschuss der Vereinten Nationen zum Schutz vor dem Verschwindenlassen, internationale Standards festzulegen. Erst 59 Staaten haben die Konvention jedoch ratifiziert. Rainer Huhle vom Deutschen Institut für Menschenrechte stand dem Ausschuss jahrelang vor:
"Die Staaten, die ratifiziert haben, geben ja auch ein Beispiel für andere Staaten, vielleicht dass dieser Dialog mit dem Ausschuss was Nützliches bringt. Und ich hoffe auch, dass unsere Leitlinien, die wir jetzt verabschiedet haben, wirklich sehr konstruktiv in dem Sinne sind, dass sie auch Staaten, auch Behörden, Polizei und Staatsanwaltschaften Anhaltspunkte geben, wie sie besser arbeiten können, denn wir gehen ja nicht davon aus, dass das alles böswillige Menschen sind."
Frust über Untätigkeit des mexikanischen Staats
Das sieht Lucia de los Angeles Diaz aus Veracruz in Mexiko womöglich anders. Wie Teresita Gaviria in Kolumbien hat auch die Mexikanerin Mütter von Verschwundenen um sich versammelt, die Organisation "Solecito de Vera Cruz" aus Frust über den mexikanische Staat gegründet. Der tut herzlich wenig, um die auf 36.000 geschätzten Verschwundenen zu finden, und das obwohl Mexiko der Konvention beigetreten ist. Lucia de los Angeles Diaz sagt:
"Wir haben uns anfangs gegenseitig moralisch, emotional und auch spirituell unterstützt, weil wir mit der Tatsache konfrontiert wurden, dass die mexikanische Regierung absolut gar nichts macht, um die Verschwundenen zu finden. Sie arbeitet nicht in diesem Sinne, im besten Falle tut sie so, als ob sie etwas täte. Und wir haben darauf reagiert, indem wir selbst anfingen, die Verschwundenen zu suchen. Zuerst haben wir zum Beispiel in Gefängnissen nachgefragt, in Krankenhäusern… überall eben, wo man möglicherweise als Unbekannter stranden kann. Und dann haben wir angefangen, auch nach Toten zu suchen, zum Beispiel in Gräbern und an verschiedenen Orten der Gerichtsmedizin."
Mexiko und Kolumbien haben die UN-Konvention unterzeichnet
Das war wohl nicht gemeint mit Beteiligung der Angehörigen in den neuen Leitlinien des UN-Ausschusses!? 16 Prinzipien sind dort verankert wie unter anderem Unabhängigkeit, Transparenz, Einrichtung nationaler Register, Respekt vor kulturellen und religiösen Gepflogenheiten, finanzielle Begleitung. Bleibt zu hoffen, dass sich die Unterzeichnerstaaten wie Mexiko und Kolumbien, aber auch der Irak versuchen, daran zu halten.
"Uns kommt es aber letztlich darauf an, dass hier und heute keine neuen Zahlen entstehen, also dass keine neuen verschwundenen Personen zu beklagen sind", bekräftigt Rainer Huhle. Dann bräuchte man wohl irgendwann auch keinen Nachfolger mehr für ihn als Vorsitzenden des UN-Ausschusses zum Schutz vor dem Verschwindenlassen zu suchen.