In einer sehr gepflegten Kindertagesstätte in der kolumbianischen Grenzstadt Cúcuta trällern die Kleinen die venezolanische Nationalhymne. Die Einrichtung der Diözese, die vom deutschen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt wird, betreut vor allem Flüchtlingskinder. Ihre Eltern versuchen in der Zwischenzeit, in der Grenzstadt Geld zu verdienen. Häufig sind es alleinerziehende Mütter.
Die kolumbianische Praktikantin Victoria Antolinas passt auf die Kinder auf und hofft, bald eine richtige Arbeit zu finden. In Cúcuta sei das aber so gut wie aussichtslos:
"Für uns hat sich alles verändert. Es gibt kaum noch Arbeit. Wir haben uns noch nicht daran gewöhnt, dass überall Venezolaner sind. Sie bekommen die Arbeitsplätze, weil sie für weniger Geld arbeiten und nicht die gleichen Rechte beanspruchen wie wir. Wenn ich hier nichts finde, werde ich gehen müssen, so wie viele Familien, die in die Hauptstadt Bogotá gegangen sind."
Ein Monatsmindestlohn für ein Kilo Mehl
Die Stadt, die einmal 2,1 Millionen Einwohner hatte, zählt jetzt noch 900.000 Venezolaner dazu. Tausende kommen jeden Tag zu Fuß über die Grenzbrücke. Manche nur, um einzukaufen, manche, um zu bleiben oder um von hier aus in andere südamerikanische Länder zu wandern. Pablo Valverde will nach Ecuador:
"Alles liegt in den Händen von Präsident Maduro. Seinetwegen ist die Situation noch schlimmer geworden. Es gibt so viele kranke Kinder und keine Medizin. Es gibt zwar Lebensmittel, aber kein Geld."
Ein Monatsmindestlohn reicht derzeit für ein Kilo Mehl. Wenn der junge Mann Geld verdient, will er es an Frau und Tochter schicken, die in Venezuela geblieben sind. Der Bauer Juan Luis Diaz will einfach nicht mehr hungern müssen und ist deshalb nach Kolumbien gekommen. Die Hoffnung auf politische Veränderungen in Venezuela hat er verloren. Oppositionsführer Juan Guaidó, den mehr als 50 Staaten als Übergangspräsidenten anerkannt haben, sei kein Retter:
"Der kann uns jetzt auch nicht mehr helfen. Es gibt keinen Anführer, keinen der die Stimme für uns erhebt, uns sagt wo es lang geht. Manchmal beschimpft er die Leute aus der Opposition. Die Oppositionsbewegung hat sich gespalten und dieser "Gegenpräsident" hat Anhänger verloren."
Der ganze Subkontinent ist überfordert
Kolumbiens Regierung hofft auf einen Machtwechsel in Venezuela. Das Entwicklungsland, das nach jahrzehntelangem, blutigem Konflikt in einem schwierigen Friedensprozess steckt, hat bereits 1,4 Millionen Venezolaner aufgenommen. Andere Länder der Region machen ihre Grenzen für Venezolaner dicht, so wie zuletzt Ecuador, Chile und Peru. Auch wenn das den Druck auf Kolumbien erhöhe, habe das Land solche Absichten nicht, versichert Felipe Muñoz, der Regierungsbeauftragte für die Grenze zu Venezuela:
"Die Politik unseres Präsidenten Duque setzt darauf, die venezolanischen Migranten zu unterstützen. Das ist schwierig und hat einen hohen Preis. Aber Kolumbien hat diese Entscheidung getroffen. Es ist unsere historische Verantwortung: zweieinhalb Millionen Kolumbianer haben wegen unseres Konflikts in Venezuela gelebt. 400.000 Kolumbianer sind zurückgekehrt."
Weiterer wichtiger Grund sei aber auch die 2.200 Kilometer lange Grenze. Dass die nicht zu kontrollieren ist, ist in Cúcuta deutlich sichtbar: Überall nutzen Venezolaner Wege über die grüne Grenze, den Fluss Tachira. Das Ausmaß der Flucht ist neu für Lateinamerika. Der ganze Subkontinent ist überfordert und seine Stabilität bedroht.