Auch heute wollen sie wieder an vielen Orten in Kolumbien marschieren und trommeln oder einfach nur mit Kerzen in der Hand der Ermordeten gedenken.
"In der schlimmen Phase der Regierung Santos wurde alle zwei Tage ein Bürgerrechtler ermordet. Heute wird mehr als einer pro Tag ermordet."
So klagt Menschenrechtsanwalt Alirio Uribe. Wer sich in Kolumbien für Menschenrechte und Frieden einsetzt lebt gefährlich:
"Seit der Unterzeichnung der Friedensverträge sind mehr als 350 Aktivisten umgebracht worden. In diesem Jahr waren es bisher 157."
Und täglich werden es mehr, erläutert Jairo Jaramillo, Gewerkschafter und Menschenrechtsaktivist. Die letzten Opfer: Im Süden, in der Region Putumayo wurden eine indigene Lehrerin und ihr Mann ermordet, im Departamento Meta kam ein Aktivist ums Leben, ein weiterer im Catatumbo, der Grenzregion zu Venezuela; Norberto Jaramillo wurde Opfer in Antioquia, im Nordwesten des Landes. Jaramillo arbeitete auf dem Land, setzte sich für den Ersatz von Koka durch legale Pflanzen bei den Bauern ein.
"Es deutet alles darauf hin, dass dahinter eine kriminelle Allianz steckt, die aus Teilen der Streitkräfte besteht, die gegen den Frieden sind, und von Paramilitärs, die in den Drogenhandel verwickelt sind."
Appell an die Regierung: "Stoppt das Morden!"
Glaubt Menschenrechtsaktivist Jairo Jaramillo. Überall, wo Friedensaktivisten, Gewerkschafter und Repräsentanten von Indigenen und Bauern mit Nachdruck für ihre Rechte eintreten, geraten sie in Gefahr. Meist fängt es mit telefonischen oder schriftlichen Drohungen an – so wie bei Norberto Jaramillo, dessen Hilfegesuche bei den oft überforderten Sicherheitskräften jedoch auf taube Ohren stießen.
Der Appell an die neue Regierung ist unmissverständlich: Stoppt das Morden! - wird auf den immer zahlreicheren Trauermärschen und Protestkundgebungen und von den linken Gruppierungen im Parlament gefordert. Präsident Duque scheint sich des Problems bewusst.
"Als Präsident der Kolumbianer werde ich intensiv daran arbeiten, alle Aktivisten zu schützen. Als Kolumbianer kann ich nicht akzeptieren, dass eine Person wegen ihrer Art zu Denken bedroht wird."
Dies erklärte Ivan Duque Ende Juli, kurz vor seiner Amtseinführung. Seit seinem Einzug im Palacio de Narino am 7. August hüllt er sich jedoch in Schweigen.
Duque - politischer Erbe von Uribe
Viele sehen in Duque den politischen Erben von Alvaro Uribe. Der frühere Präsident und mächtige Mann im Senat soll wegen seiner Nähe zum Paramilitarismus, das heißt zu Todesschwadronen und illegalen paramilitärischen Verbänden jetzt juristisch belangt werden. Viele Paramilitärs glauben offenbar unter Präsident Duque, einem erklärten Kritiker des von Amtsvorgänger Santos eingeleiteten Friedensprozesses, eine Art Blankoscheck für ihr brutales, kriminelles Vorgehen zu besitzen. Wie sonst ist der dramatische Anstieg der Morde seit Amtsantritt on Duque zu erklären? Tom Koenigs ist Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Kolumbien:
"Man hatte gedacht, dass die neue Regierung den Friedensprozess vielleicht nicht so ernst nimmt wie die alte. Jetzt stellt sich heraus, dass die neue Regierung von der alten ein Problem geerbt hat, das den ganzen Friedensprozess wirklich bedroht. Und diese Bedrohung kommt nicht vom Staat, sondern ist eigentlich auch gegen den Staat gerichtet. Und deshalb wird Präsident Duque sich als allererstes darum kümmern müssen, dass dieses aufhört, denn diese Art von selektiven Morden hat Geschichte in Kolumbien. Da ist schon einmal ein Friedensprozess mit einem Völkermord beendet worden."
Das war Ende der 1980er Jahre, als Mitglieder der linken Partei 'Union Patriotica' systematisch ermordet wurden. Mit der Union Patriotica hatten Teile der FARC, des Nationalen Befreiungsheeres und andere Guerillagruppierungen versucht, ihren Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit statt mit der Waffe politisch zu führen. Zwischen 3.000 und 5.000 wurden Schätzungen zufolge damals ermordet - darunter Präsidentschaftskandidaten, Bürgermeister, Abgeordnete, Gewerkschafter.
Sollte es zu einer Neuauflage dieser unheilvollen Episode in der Geschichte Kolumbiens kommen?
"Seit Unterzeichnung des Abkommens bis heute sind 76 Mitglieder der FARC-Partei, also der Revolutionären Alternativen Kräfte des Gemeinwesens, ermordet worden", bestätigt die Ex Guerillera Victoria Sandino dem Deutschlandfunk. "Die meisten von diesen sind gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden. Und obwohl es seit zwei Jahren eine Amnestie gibt, bleiben immer noch 375 FARC-Mitglieder inhaftiert."
12.000 einstige FARC-Kämpfer
Victoria Sandino zeigt sich zutiefst beunruhigt durch die wachsende Zahl an Morden. Sie führt jetzt als Senatorin ihren Kampf für ein sozialeres und gerechteres Kolumbien. Sie baut weiter auf den Friedensprozess - trotz vieler nicht gehaltener Versprechen der Regierung bei der Reintegration der FARC-Kämpfer in die Gesellschaft. Diese Linie hat auch der Parteitag am vergangenen Wochenende bekräftigt - ein Jahr nach Gründung der FARC als Partei. Gefehlt hatten allerdings einige prominente Köpfe wie Ivan Marquez, der einer der Verhandlungsführer war.
"Natürlich bleiben wir von der Partei FARC dem Frieden und dem in Havanna geschlossenen Abkommen verbunden. Wir - das schließt alle Mitglieder unserer Partei ein, auch Ivan Marquez, El Paisa und andere Kameraden, die in sich in entlegenen Zonen aufhalten."
Ivan Marquez und andere sind abgetaucht, auch weil sie fürchten trotz Sondergerichtsbarkeit wegen angeblichen Drogenhandels belangt zu werden. Das hat Gerüchte einer Spaltung genährt. Die Zeitschrift Semana sprach unlängst von 4.000 Dissidenten, die eine neue Kampfeinheit bilden wollten. Offiziell ist von 1.463 Dissidenten von insgesamt 12.000 einstigen FARC-Kämpfern und Anhängern die Rede. Die Zahl der Dissidenten - das ist kein Geheimnis - steigt.
"Noch ist der Friedensprozess nicht in Gefahr, aber man kann natürlich keinen dauerhaften und stabilen Frieden schaffen, wenn weiterhin Aktivisten, Bürger- und Menschenrechtler sowie Mitglieder unserer Partei ermordet werden."
Dies glaubt Ex Guerillaführerin Victoria Sandino. Auch Tom Koenigs, der Kolumbienbeauftragte der Bundesregierung, versucht trotz der täglichen Morde optimistisch zu bleiben.
"Ich glaube, man muss den Kurs halten. Man muss den Friedensprozess gemeinsam mit allen anderen weiter stützen und vor allem die Öffnung, die Kolumbien gemacht hat gegenüber der internationalen Präsenz, das ist ja in der Region keineswegs selbstverständlich, muss man weiter unterstützen. Und deshalb: Man muss optimistisch sein."