Das Interview mit dem kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos können Sie hier im Original nachhören.
Burkhard Birke: Wie beurteilen Sie den Politikwechsel von US-Präsident Trump gegenüber dem Iran?
Juan Manuel Santos: Ich bedauere die Entscheidung wegen der Konsequenzen, die sie nach sich ziehen könnte. Natürlich ist jedes Land souverän, die Entscheidungen zu treffen, die es für die passenden hält, aber aus dem Atomabkommen auszusteigen kann weitreichende Folgen nach sich ziehen. Bleibt zu hoffen, dass sich die Lage im Nahen Osten nicht verschlechtert.
Birke: Frieden suchen – das ist das Motto des Katholikentages in Münster. Sie haben gegen großen Widerstand den Frieden in ihrem Land gesucht und ein historisches Abkommen mit der FARC-Guerilla geschlossen, um einen Schlussstrich unter mehr als 50 Jahre bewaffneten Konflikt zu ziehen. Welche persönliche Bilanz ziehen Sie über die Umsetzung dieses Abkommens - wenige Monate, bevor Sie aus dem Amt scheiden?
Santos: Wir sind auf dem richtigen Weg und haben alle kurzfristigen Ziele sehr rasch umgesetzt. Die Guerilla ist entwaffnet, demobilisiert. Die FARC sind eine politische Partei geworden und haben an den Wahlen teilgenommen – es waren die friedlichsten Wahlen in Kolumbiens jüngerer Geschichte. Wir sind jetzt im Begriff, andere Aspekte eines Vertrages umzusetzen, der wohl der komplexeste und anspruchsvollste ist, der jemals in der Geschichte der Konfliktbewältigung ausgehandelt wurde. Da geht es um die Schaffung von Infrastruktur in den Konfliktgebieten, Schulen und Krankenhäuser müssen gebaut werden und das braucht Zeit.
"Veränderungen, die sich nicht so schnell umsetzen lassen"
Birke: Nichtregierungsorganisationen, auch Hilfsorganisationen wie Misereor und "Brot für die Welt" hier in Deutschland kritisieren, dass es kaum Fortschritte bei der ländlichen Entwicklung in den von den FARC verlassenen Regionen und bei der politischen Reform gibt, so wie es im Friedensvertrag vereinbart wurde.
Santos: Wir haben schon Fortschritte gemacht, wie wir es vereinbart haben. Wir haben uns allerdings einen Zeitrahmen von 15 Jahren gegeben. Einige Organisationen wollen, dass alles sofort umgesetzt wird, aber das ist physisch unmöglich. Da kommen noch andere Fragen ins Spiel wie die Lebensweise, das Entwicklungsmodell und die Form der Demokratie in Kolumbien. Und das sind Veränderungen, die sich nicht so schnell umsetzen lassen wie die Entwaffnung und die Reintegration von Guerilleros.
Birke: Präsident Santos, seit Anfang letzten Jahres sind mehr als 150 Menschenrechts- und Gewerkschaftsaktivisten und rund 40 ehemalige Mitglieder der FARC-Guerilla ermordet worden. Ist der kolumbianische Staat nicht in der Lage, diese Menschen zu schützen? Warum kann der Staat nicht die ehemaligen FARC-Gebiete kontrollieren, die zunehmend unter den Einfluss von kriminellen Banden geraten?
Santos: Die Zahl ist nicht ganz so hoch, wie Sie behaupten, aber wir nehmen das Problem sehr ernst. Die Morde gehen auf verschiedene Konten, haben unterschiedliche Hintergründe. Einer ist, dass die Drogenhändler nicht zulassen wollen, dass der Koka-Anbau freiwillig durch legale Pflanzen ersetzt wird, weil ihnen sonst der Rohstoff ausgeht. Andere wollen verhindern, dass gewaltsam vertriebene Bauern ihr Land zurückbekommen. Das Programm läuft. Wir haben schon 300.000 Hektar zurückgegeben. Über 500.000 Hektar müssen die Gerichte noch entscheiden. Die kriminellen Banden kämpfen untereinander um die Drogenkorridore und auch auf ihr Konto gehen einige dieser Morde. Die ELN-Guerilla kämpft gegen andere Gruppierungen und ist für Ermordungen verantwortlich. Die Lösung des Problems besitzt für uns Priorität. Für mich ist ein einziger Mord zu viel. Deshalb haben wir 80.000 Militärs in diesen Gebieten stationiert, damit sie nach und nach die Kontrolle übernehmen und das Morden beenden.
"Koka-Produktion der kleinen Bauern entkriminalisieren"
Birke: In diesen Gebieten, Präsident Santos, hat auch der Drogenanbau unglaublich zugenommen. Sie haben über den Kampf gegen Drogen gesprochen. Ist es nicht Zeit, die Strategie völlig zu verändern? Würden Sie eine Entkriminalisierung oder gar Legalisierung der Drogen im internationalen Kontext befürworten?
Santos: Schauen Sie: Der Kokaanbau hat vor einigen Jahren zugenommen, weil wir im Rahmen der Friedensgespräche auch über Substitution, also Ersatzpflanzungen für illegale Drogen verhandelt haben. Viele Bauern haben gedacht, dass sie finanziell mehr profitieren würden, wenn sie mehr Koka anpflanzen. Unser Substitutionsprogramm läuft. Das geht auch nicht von heute auf morgen. Mit jeder einzelnen Familie muss ein Vertrag geschlossen werden. Mit 100.000 Familien haben wir solche Verträge geschlossen und damit 33.000 Hektar Koka auf freiwilliger Basis vernichtet. Zusätzlich haben wir seit Anfang letzten Jahres 100.000 Hektar Kokaanbaufläche zwangsweise aus dem Verkehr gezogen.
Das Drogenproblem bleibt aber solange bestehen, wie in Deutschland und in anderen Ländern Kokain konsumiert wird. Deshalb habe ich seit vielen Jahren bei der UNO und in der ganzen Welt dafür plädiert, unsere Antidrogenstrategie zu überarbeiten.
Vor mehr als 40 Jahren hat die UNO den Drogen den Krieg erklärt und bis heute nicht gewonnen. Dann muss man etwas ändern. Ich habe die Diskussion angestoßen. Es gab vor einigen Jahren sogar eine außerordentliche UNO-Versammlung dazu, leider haben wir kaum Fortschritte gemacht, aber Kolumbien setzt sich seit Jahren bereits für eine Revision des Kampfes gegen Drogen ein.
Birke: Auch um Drogen zu entkriminalisieren, zu legalisieren?
Santos: Wir müssen wenigstens die Produktion der kleinen Bauern entkriminalisieren. Die Politik, Drogenkonsumenten ins Gefängnis zu stecken, halte ich für irreführend. Man muss die Handelsketten der Mafias, deren illegale Aktivitäten unterbinden. Alles andere ist ein Gesundheitsproblem. Wir müssen pragmatischer und effizienter vorgehen. Denn, um ein Bespiel zu geben, momentan sitzen mehr Menschen in US-amerikanischen Gefängnissen wegen Drogendelikten ein als es Insassen in sämtlichen europäischen Gefängnissen gibt. Das macht keinen Sinn!
Den Frieden unumkehrbar machen
Birke: Präsident Santos, eine zweite Guerillagruppe, das Nationale Befreiungsheer, ELN, ist noch nicht befriedet. Die Verhandlungen sind unterbrochen, von Ecuador nach Kuba verlagert worden. Jetzt wird in Havanna wieder verhandelt. Können Sie vor Ihrem Ausscheiden aus dem Amt im August ein Fundament für Frieden mit dem ELN legen?
Wir tun alles, was in unseren Kräften steht. Es wäre gut für alle, deshalb suchen wir den Frieden mit dem ELN, obwohl viele fordern, die Verhandlungen abzubrechen. Aber ich glaube im Gegenteil, dass wir den guten Willen des ELN suchen müssen, um Abkommen zu erzielen. Hoffentlich gelingt es uns, bald ein Waffenstillstandsabkommen zu vereinbaren und Fortschritte in anderen Punkten unserer Verhandlungsagenda zu erzielen, damit die Nachfolgeregierung eine Vereinbarung vorfindet, die sie nicht mehr zurückdrehen kann.
Birke: Das heißt, sie wollen den Weg zum Frieden für Ihren Nachfolger unumkehrbar machen? Der laut Umfragen aussichtsreichste Kandidat für Ihre Nachfolge, Ivan Duque vom Centro Democratico, gehört zu den schärfsten Kritikern des Friedensabkommens!
Santos: Ja - leider wurde der Friedensprozess politisiert. Er wurde von der Kraft der Lügen unterminiert - wie ich betont habe, als ich neulich die Kommission zur Wahrheitsfindung eingesetzt habe. Die Wahrheit ist ja bekanntlich das erste Opfer irgendeines Krieges und wir führten 54 Jahre Krieg gegen die FARC! Rund um den Friedensprozess wurden so viele Lügen und Falschmeldungen verbreitet: Den Leuten wurde beispielsweise eingeredet, Kolumbien würde den FARC-Guerilleros übergeben. Dann haben die Leute gemerkt, dass man ihnen die Unwahrheit gesagt hatte und allmählich haben die Menschen verstanden, dass Frieden das Wichtigste in einer jeden Gesellschaft ist. Ich glaube, wer auch immer Präsident wird, wird merken, dass es unpassend und irrational wäre, dieses Abkommen zurückzudrehen.
Migration aus Venezuela "ein sehr ernstes Problem"
Birke: Präsident Santos – wie erlebt Kolumbien die Krise im Nachbarland Venezuela, das ja auch im Friedensprozess vermittelt hat, und wie bewältigt es die Immigration von dort?
Für Kolumbien ist das ein großes Problem, weil mittlerweile mehr als eine Million Venezolaner nach Kolumbien gekommen sind. Wir stehen hier moralisch in der Pflicht und wir wollen den Venezolanern helfen. Die Venezolaner sind unsere Brüder. Sie waren sehr großzügig, als viele Kolumbianer aus verschiedenen Gründen nach Venezuela ausgewandert sind. Wir sind natürlich nicht mit dem Regime einverstanden, das diese humanitäre Krise und diese Auswanderungswelle nach Kolumbien verursacht hat. Wir haben die Menschen aufgenommen, aber das ist natürlich ein Problem, bei dessen Lösung wir auf internationale Hilfe angewiesen sind, vor allem angesichts der Größenordnung. Von heute auf morgen kommen so zahlreiche Menschen. Wir haben sie großzügig und mit besten Absichten aufgenommen, aber es ist ein sehr ernstes Problem, das wir Tag für Tag managen müssen, da es schlimmer wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.