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Politische Dokumentarfilme
Weniger Selbst­ver­ge­wis­se­rung, mehr Kom­ple­xität

Hinter die Kulissen schauen und verstehen, wie Politik funktioniert, das versprechen Langzeit-Dokus wie "Ernstfall" von Stephan Lamby. Wirklich informativ sei die Erzählart hier aber nicht, meint Matthias Dell. Doch es gehe auch anders.

Eine Kolumne von Matthias Dell |
Olaf Scholz (SPD) steht 2021 vor der abendlichen Berliner Skyline auf einer Dachterasse und gibt dem Dokumentarfilmer Stephan Lamby (3.vl) ein Interview.
Über Berlin und ganz nah dran an "denen da oben": der Dokumentarfilmer Stephan Lamby (4.vr) 2021 neben dem damaligen Kanzlerkandidaten und heutigen Kanzler Olaf Scholz (SPD). (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
Politik ist mehr als die Meldung, die es in die "Tagesschau" geschafft hat. Deshalb gibt es dokumentarische Filme, die länger hinschauen und, wenn möglich, hinter die Kulissen. Damit man versteht, wie Politik funktioniert, wie Entscheidungen zustande kommen, welche Auswirkungen die haben.

Wenn Selbstentlarvung nicht funktioniert

Unter diesen dokumentarischen Formen erfreut sich eine in der letzten Zeit besonderer Popularität: die Langzeitbegleitung, am besten unkommentiert. Das Filmteam heftet sich an die Fersen von neuen Abgeordneten oder einer frischgekürten Ministerin, reist mit Parteigruppen herum oder darf ins Kanzleramt hinein – und dann sollen diese Bilder erzählen, was so passiert im politischen Betrieb. Wie die Arbeit aussieht, wenn nicht gerade Bundestagsrede oder Talkshowauftritt ist.
Es gibt unter diesen dokumentarischen Arbeiten immer wieder gelungene Beiträge. Der Film über "Kevin Kühnert und die SPD" von 2021 zum Beispiel, der den einst aufmüpfigen Juso-Vorsitzenden über Jahre begleitete. Und der recht gut vermittelt, wie stark Medien und Politik aufeinander bezogen sind. Oder Simon Brückners AfD-Beobachtung "Eine deutsche Partei" aus dem vergangenen Jahr, die zeigt, wie in der in Teilen rechtsextremen Partei untereinander geredet und gedacht wird.
Aber bei aller Direktheit, die von der Langzeitbegleitung ausgeht – diese Form hat auch ihre Grenzen. Denn alles, was nicht im Bild zu sehen ist, findet keinen Platz in der Erzählung. Das ist gerade bei der Darstellung der AfD ein Problem. Denn die Annahme, man müsse nur zeigen, wie menschenverachtend die Leute da reden, dann würde sich die Partei von selbst entlarven, ist leider eine falsche.

Politisches Sendungsbewusstsein und journalistische Eitelkeit

Und nah dran zu sein, bedeutet nicht zwangsläufig, weit schauen zu können. Der Journalist Stephan Lamby macht seit Jahren Dokumentarfilme, die davon leben, Zugang zu den höchsten Ebenen der Politik zu haben: Für seinen aktuellen Film "Ernstfall" konnte Lamby mit den Spitzen der Regierungskoalition während der aktuellen Krisen sprechen – mit Scholz, Habeck, Lindner, Baerbock.
Aber deswegen versteht man trotzdem nicht mehr: "Ernstfall" erzählt all das, was man aus den "Tagesschau"-Meldungen schon weiß, noch einmal, aber ohne dass dabei viel mehr herumkäme als bei den "Tagesschau"-Meldungen. So helfen Stephan-Lamby-Filme weniger bei der Information als zur Selbstvergewisserung – sie bedienen das Sendungsbewusstsein der Politik und die Eitelkeit des Journalismus.

Wo dokumentarische Arbeit aufgeht

Auch deshalb ist der Ansatz, den der Dokumentarfilmemacher Florian Opitz gewählt hat, so bemerkenswert. Opitz erzählt in seiner aktuellen, fünfteiligen Arte-Doku-Serie namens "Capital B – Wem gehört Berlin", wie die deutsche Hauptstadt nach der Einheit 1990 wurde, was sie heute ist.
Die Serie arbeitet mit klug ausgesuchtem Archivmaterial und Interviews mit etwa 25 Menschen aus ganz verschiedenen Kreisen – aus der Politik, auch aus den Medien, vor allem aber aus Kultur und Zivilgesellschaft.
Dank dieser Vielstimmigkeit gelingt es, die Komplexität von politischen Entscheidungen begreifbar zu machen. Man weiß danach mehr über Berlin und die Politik – und würde sich wünschen, dass auf solche umfassende Weise häufiger dokumentarisch gearbeitet wird.