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Täter-Opfer-Umkehr
Aiwanger macht den Trump

Der Politiker als Opfer der Medien? Hubert Aiwanger inszeniere seine Flugblatt-Affäre als vermeintliche Schmutzkampagne. Er nutze damit einen Trick rechter Kulturkämpfe, den wir schon von AfD und Trump kennen, meint Matthias Dell in seiner Kolumne.

Eine Kolumne von Matthias Dell |
Hubert Aiwanger (Freie Wähler) winkt am 03.09.2023 nach seiner Rede am Keferloher Sonntag im Festzelt auf Gut Keferloh bei München vor Kameras und Mikrofonen in die Menge.
Hubert Aiwanger (Freie Wähler) lässt sich nach einer Rede am Keferloher Sonntag feiern. Die Pose des vermeintlichen Medienopfers sei erstaunlich wirksam, meint Matthias Dell. (IMAGO / Sven Simon / IMAGO / Frank Hoermann / SVEN SIMON)
Die Affäre um das neonazistische Flugblatt aus Hubert Aiwangers Schulranzen ist fürs erste vorbei. Aus medialer Sicht gibt der Vorgang einiges zu denken. Denn Aiwanger hat, sagen selbst die Leute, die ihn verteidigen, in der Krise nicht gut kommuniziert. Seine Version der Geschichte klingt so wenig glaubhaft wie seine dürren Worte der Entschuldigung. Was für andere zum Verhängnis geworden wäre, spielt bei Aiwanger bislang aber eine untergeordnete Rolle – weil Aiwanger sich von Beginn an als Opfer einer vermeintlichen Medienkampagne inszenierte.

Was Aiwanger mit Höcke oder Trump verbindet

Das "Rumgeopfere" ist ein Trick aus den rechten Kulturkämpfen seit mehr als 40 Jahren, den in Deutschland auch die AfD benutzt und in den USA Donald Trump. Es ist erstaunlich, wie wirksam diese Pose ist, weil ein krasser Widerspruch entsteht: Leute, die eigentlich als tatkräftig, geerdet und durchsetzungsfähig rüberkommen wollen, wie Aiwanger, Höcke oder Trump, jammern die ganze Zeit rum, wie böse angeblich alle anderen zu ihnen sind. Im Fußballstadion zieht solch ein Verhalten nur Verachtung nach sich: Ein Spieler, der nur so tut, als sei er gefoult worden und sich übertrieben am Boden wälzt, kann davon ausgehen, fortan als Schauspieler ausgepfiffen zu werden.
In der Politik ist das anders, auch weil es keinen Videoschiedsrichter und keine Zeitlupe gibt. Politik lebt von der medialen Vermittlung, und damit von Bildern und Reden. Wie groß die rhetorische Kraft dieser Bilder ist, kann man beispielhaft an Aiwangers Antworten auf die 25 Fragen von Bayerns Ministerpräsident Söder sehen. Da wird in einer Vorbemerkung Entsetzen geäußert darüber, dass aus dem "geschützten Raum Schule" Informationen weitergegeben würden.

Aiwanger klaut sich einen Begriff von vulnerablen Gruppen

Der "geschützte Raum Schule" ist ein starkes Bild. Aiwanger macht sich damit aus zwei Gründen zum Opfer. Zum einen verwendet er einen Begriff, der in der medialen Debatte seit ein paar Jahren eingeführt ist durch vulnerable Gruppen, also Menschen, die tatsächlich Opfer sind, von Diskriminierung betroffen. Der "geschützte Raum", englisch "safe space", ist der Ort, an dem etwa trans Personen, People of Color oder andere Minderheiten unter sich sein können, das heißt: sicher vor kleineren oder größeren Angriffen aus der weißen Mehrheitsgesellschaft.
Schon das ist infam – Aiwanger klaut sich einen Begriff und damit den Opferstatus von Leuten, gegen die er als Stimme der vermeintlich normalen Bevölkerung sonst seine Bierzeltreden entwirft. Die Sorgen von diesen vulnerablen Gruppen firmieren bei Aiwanger dann als "links-grünes Gendergaga".

Das Flugblatt – ein Medium, das selbst Öffentlichkeit sucht

Zum anderen bewirkt das Bild vom "geschützten Raum Schule", der durch Weitergabe von Informationen verletzt worden sei, eine Täter-Opfer-Umkehr, die man erst auf den zweiten Blick erkennt. Denn die Affäre dreht sich ja nicht um die Info, in welcher Erdkunde-Klassenarbeit Aiwanger eine Vier geschrieben hat. Sondern um ein Flugblatt – also ein Medium, das selbst Öffentlichkeit sucht.
Andere Menschen, möglichst viele, sollten den Text lesen und davon im besten Fall beeinflusst werden in ihrer Wahrnehmung des Geschichtswettbewerbs, über den das Flugblatt auf eine ekelhafte Weise Häme ausschüttet. Mit anderen Worten: Das kann man, innerhalb der Schulöffentlichkeit, eine Medienkampagne nennen.
Die Kampagne stand also eher am Anfang als am Ende dieser Affäre, in der Hubert Aiwanger eines niemals gewesen ist: Ein Opfer.