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Medien
Warum privilegierte Stimmen die öffentliche Meinung prägen

Ob Armutsbetroffene oder Schwerbehinderte - viele marginalisierte Stimmen seien in den Medien unterrepräsentiert, meint Marina Weisband in ihrer Kolumne. Gehört würden vor allem privilegierte Menschen. Sie fordert inklusivere Diskursräume.

Eine Kolumne von Marina Weisband |
Das leere Studio der ARD-Talkshow "Anne Will" am 04.02.2015 in Berlin
Wer in den Talkshows der Bundesrepublik Platz nehmen darf, wer nach Einschätzungen gefragt wird und wer die Themen setzen darf, sei immer noch sehr abhängig von Privilegien wie Zeit und Geld, meint Marina Weisband (imago / Müller-Stauffenberg / imago stock&people)
Warum gibt es so wenig Diversität in den Medien? Warum hören wir immer wieder ähnliche Perspektiven? Ist die sogenannte Berliner Bubble überrepräsentiert? Diese Vorwürfe, gerade von den Medienschaffenden selbst, sind nicht neu. Viele Journalistinnen und Journalisten sind um Diversität bemüht und doch nehme ich wahr, dass bestimmte Gruppen überrepräsentiert sind. Gibt es einfach nicht genug diverse sprechfähige Leute?
Weil die Bundesregierung und der Bundestag in Berlin sind, sitzen dort auch viele Stiftungen. Viele Interessensvertretungen. Und entsprechend auch viele Redaktionen. Und weil dort schon so viele sind, ziehen immer mehr hin. Netzwerktreffen, Veranstaltungen und viele Aufzeichnungen finden dementsprechend in Berlin statt.

Privilegiert - und doch benachteiligt

Lassen Sie mich ein Bild zeichnen, welche Konsequenz das für mich hat: Ich werde zu einem Fernsehinterview eingeladen, aber bitte ins Studio, wegen des schöneren Bildes. Seit Corona haben diese Schalten per Videokonferenz nämlich alle satt. Der Redakteur ist überrascht davon, dass ich nach einer Reisekostenerstattung frage. „Ach, Sie wohnen gar nicht in Berlin?“ Nein. Ich wohne in Münster. Ich nehme den Zug. Aufgrund meiner Krankheit mit dem Rollstuhl. Um in einen Zug zu steigen, brauche ich jemanden, der mich mit einem hydraulischen Hublift hineinhebt und dann wieder hinaus. Diesen Mobilitätsservice muss ich mindestens 24 Stunden vorher buchen. Das impliziert ein Onlineformular, ein Telefonat und eine sehr strenge Zugbindung.
Porträtfoto von Marina Weisband
@mediasres-Kolumnistin Marina Weisband (Lars Borges)
Auf der Fahrt nach Berlin stecke ich eine Weile fest auf einer Plattform mit kaputtem Aufzug und in einem Wagen mit einer defekten Tür. Für Berlin muss ich U-Bahnstationen scouten, die barrierefrei sind. In Neukölln habe ich Probleme, die Bürgersteige hochzukommen, selbst da, wo sie abgesenkt sind. Bis ich irgendwo ankomme, bin ich kaum in der Verfassung, irgendwie aufzutreten.
Ich bin in alledem noch sehr privilegiert. Ich arbeite meist über das Internet. Weil mein Name bekannter ist, wird mir viel ermöglicht. Und trotzdem bin ich von einem Teil der Öffentlichkeit abgeschnitten.

Vielen fehlen grundlegende Ressourcen wie Zeit

Und jetzt stellen Sie sich mal vor, wie es vielen sehr sprechfähigen Leuten geht, die armutsbetroffen sind, die kein sauberes Deutsch sprechen, die kleine Kinder haben, die schwerbehindert sind, die Angehörige pflegen. Wie viele Stimmen gehen unserer Gesellschaft verloren, wie viele Expertisen, wie viele Geschichten?
In ihrem aktuellen Buch „Alle Zeit“ kritisiert die Feministin Teresa Bücker, dass vielen Gruppen schlicht zeitliche Ressourcen fehlen, um sich in den Diskurs einzubringen. Eltern oder Pflegekräfte haben zum Beispiel oft keine Zeit und Ruhe, Missstände groß anzuprangern – denn sie sind voll damit eingespannt, ihre täglichen Aufgaben zu bewältigen.
Dass nur ein Bruchteil der Gesellschaft die öffentliche Meinung prägt – nämlich die Menschen mit mehr Ressourcen und mehr Freizeit –, ist in jeder Demokratie eine Herausforderung. Auch auf Social Media finden vor allem die statt, die Zeit haben, auf Social Media stattzufinden. Wobei etlichen marginalisierten Gruppen hilft, für ihre Rechte zu kämpfen, wenn ihre Inhalte oft geteilt werden, also viral gehen. Um diesen Mechanismus nicht dem Zufall oder Bot-Armeen zu überlassen, können gerade Massenmedien mehr Diskursräume öffnen, die inklusiver sind. Für Menschen mit Behinderungen und Geld- und Zeitmangel. Und für ihre guten Argumente und Lösungsideen.