Meinung
Wir brauchen eine andere Berichterstattung nach Wahlen

Das Schauen von Nachrichtensendungen nach Wahlen befördere ihre eigene Politikverdrossenheit, so Marina Weisband in ihrer Kolumne. Statt Fragen ohne Erkenntnisgewinn wie bei Sportübertragungen, wünscht sie sich andere Akzente – und Gesprächspartner.

Kolumne von Marina Weisband |
ZDF-Chefredakteurin Bettina Schausten nach der Europawahl 2024 im Gespräch mit Omid Nouripour, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen
ZDF-Chefredakteurin Bettina Schausten im Gespräch mit Grünen-Chef Omid Nouripour - "Was soll man auch antworten, wenn die eigene Partei gegenüber dem letzten Wahlergebnis verloren hat?", fragt sich Marina Weisband (ZDF)
„Das ist ein Ergebnis, mit dem wir nicht zufrieden sind.“, „Es hat keinen Sinn, jetzt dem Kanzler Schuld zu geben“, „Wir müssen jetzt liefern“… Kennen Sie diese Sätze auch auswendig? Sie fallen so oder so ähnlich nach so ziemlich jeder Wahl in Interviews mit Politikern und Politikerinnen über die Wahlergebnisse.
Das Ritual gehört zur Demokratie: Nach den ersten Hochrechnungen werden Parteifunktionären Mikrofone vors Gesicht gehalten und sie dürfen dann hinein strahlen oder etwas sehr Staatsmännisches sagen. Die Aussagen stammen dabei aus einem so kleinen Katalog, dass man daraus beinahe eine Multiple-Choice-Frage machen könnte.
Klar, was soll man auch antworten, wenn die eigene Partei gegenüber dem letzten Wahlergebnis verloren hat? Wenn man nicht mehr stärkste Kraft ist, sondern vielleicht auf Platz vier? Andererseits, was soll man sagen, wenn man ein gutes Ergebnis eingefahren hat? „Wir sind sehr zufrieden, dass unsere Politik die Menschen im Land überzeugen konnte.“ Ja, nun.

Erinnerung an Fußball-Interviews 

Diese Interviews erinnern mich – zugegeben als Nicht-Sportfan – an die Interviews mit Fußballern nach einem Spiel. „Sie haben das Spiel verloren. Wie fühlen Sie sich jetzt?“ „Ja, nicht gut, ne?“ Ich habe mich schon immer gefragt, was der Erkenntnisgewinn solcher Fragen ist. Dennoch werden sie immer gestellt. 
Im politischen Kontext stellt sich diese Frage gleich doppelt. Denn hier will die Berichterstattung ja eigentlich vermeiden, dass Parteien bloß ihre Phrasen in die Kameras sagen. Das Ziel ist ja, Politik kritisch zu begleiten und einzuordnen. Warum begnügt man sich also häufig mit diesen beinahe schon ritualisierten, meist inhaltslosen Interviews?
Ich spüre selbst immer eine Politikverdrossenheit, wenn ich mir ein paar Nachrichtensendungen nach so einer Wahl ansehe. Denn eingeübte Phrasen, die möglichst Schaden vermeiden sollen, wirken halt auch immer unehrlich und distanziert. 

Es gibt so viel zu besprechen

Was würde ich stattdessen lieber sehen? Interessanter wäre doch, Politiker zu fragen, welche konkreten Machtoptionen sie in dieser Konstellation von Wahlergebnissen sehen. Was können Wähler an konkreter Politik in der kommenden Legislatur erwarten? Man könnte nochmal auf die wichtigsten Wahlprogrammpunkte eingehen. Natürlich interessiert auch, welche Schlüsse eine Partei aus einem Ergebnis zieht. Wird sie sich personell neu aufstellen? Ihre Kommunikation verändern? Aber danach zu fragen lohnt sich immer erst einige Wochen nach der Wahl. Denn am Wahlabend ist diese Strategie ja offensichtlich noch nicht vorbereitet.  
Wissen Sie, wessen Meinung mich am Wahlabend noch mehr interessiert als die Meinung der Leute, deren Karrieren offensichtlich von diesen Ergebnissen abhängen? Die Menschen, deren Leben von diesen Ergebnissen abhängen. Wie fühlen sich immigrierte Menschen bei einem Rekord-Ergebnis der AfD? Was halten Jugendliche vom Ergebnis, und warum? Wie geht es jenen, die beruflich und wirtschaftlich auf offene innereuropäische Grenzen angewiesen sind bei einem Sieg der nationalistischen Parteien?  
Es gibt so viel zu besprechen. Besonnen, methodisch. Irgendwie erscheint es mir da als Verschwendung von Sendezeit, einstudierte Floskeln der Gewinner und Verlierer wieder und wieder zu hören. Ich hoffe, die Medien behalten ihre Augen auch jenseits der Wahl auf Europa. Denn das zuvor weitgehend bürokratische Europa ist hochpolitisch geworden. Es geht uns alle an. Ich wähle keine Mannschaften, sondern meine Zukunft. Ich will wissen, was damit ist. 
Marina Weisband, 1987 in der Ukraine geboren, ist Beteiligungspädagogin, Publizistin, Diplom-Psychologin, Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und hat am Grundsatzprogramm der Partei mitgewirkt. Sie schreibt zu Themen wie Medien und politischer Partizipation und leitet seit 2014 das Schülerbeteiligungsprojekt aula.