Julian Ignatowitsch: Herr Martenstein, wir sind im Kino Astor in Berlin, gehen gleich in den Oscar-prämierten Film "Moonlight". Was viele sicher nicht wissen, Deutschlands bekanntester Kolumnist hat seine journalistische Laufbahn als Kinokritiker begonnen.
Harald Martenstein: Ja, als Theater- oder Literaturkritiker war ich nicht qualifiziert. Aber ich dachte, dass ich von Film Ahnung hatte. Jetzt war ich Anfang 20 und wurde bei einer kleinen Lokalzeitung in Hessen genommen, als nichtswürdiger Youngster in dieser Kulturredaktion. Das, wohin sie mich schickten waren die Softpornos, die es damals im Kino gab, die hießen "In der Lederhose wird gejodelt" oder "Schulmädchen Report - Teil 13". Dass die das überhaupt besprochen haben, hing damit zusammen, dass die Zeitung die Linie vertrat, wer bei uns eine Anzeige abgibt, hat auch das Recht auf eine Kritik erworben. Und diese Kritik sollte dann auch einigermaßen positiv ausfallen.
Ich hatte mit diesem Genre keine Erfahrung, ich hatte mich nie in eines dieser Kinos getraut. Also saß ich da mit meinem Leuchtkugelschreiber zwischen all den Männern und zerbrach mir den Kopf darüber, was ich gut finden soll. Ich mochte auch überhaupt keine abwägenden Kritiken, "Sowohl-als-auch-Texte" sind nicht meine Spezialität. Ich habe Filme entweder hemmungslos gelobt oder in Grund und Boden gestampft, hin und wieder habe ich auch mal eine ausgewogene Kritik geschrieben.
Ignatowitsch: Lobgesang oder Totalverriss - da ist der Kolumnist ja schon zu erkennen. Was macht eine gute Kritik aus?
Harald Martenstein: Ich glaube, dass die Leute von einem Kritiker erwarten, dass er Farbe bekennt und etwas riskiert. Ein Urteil ist ein Risiko. Man kann sich auch täuschen. In einer idealen Kritik, wie ich sie mir vorstelle, zeigt der Kritiker ganz deutlich, dass das subjektiv ist, was er aufschreibt. Dass er keine allgemeingültige Wahrheit verkündet. Dass er kein Filmpapst ist, der auf einem Feldherrnhügel steht, sondern das er versucht, es so zu schildern, wie es bei ihm angekommen ist. Aber, dass es durchaus möglich ist, die ganze Geschichte auch anders zu sehen.
"Nicht möglich, irgendetwas zu sagen, ohne dass das strittig ist"
Ignatowitsch: So ist das ja auch bei Ihren Kolumnen, die sind natürlich sehr subjektiv und polarisieren entsprechend. Als junger Mann waren sie in der Deutschen Kommunistischen Partei, heute wirft ihnen zum Beispiel Stefan Niggemeier vor, sie stünden "stellvertretend für die Mehrheit weißer, heterosexueller, alter Männer, die die Welt nicht mehr verstehen". Was würde Ihr junges Ich dazu sagen?
Martenstein: Naja, ein dickes Fell braucht man. Es ist nicht möglich, irgendetwas zu sagen, ohne dass das strittig ist und ohne dass man deswegen angefeindet wird. Würde ich das Gegenteil in meinen Kolumnen schreiben, hätte ich auch Ärger. So ist es halt. Natürlich wäre ich als 20-Jähriger nicht damit einverstanden gewesen mit dem, was ich heute 30, 40 Jahre später schreibe. Das wäre mir viel zu bürgerlich und konservativ gewesen. So wie ich auch auf den 20-Jährigen, der ich war, mit einer sympathisierenden Distanz blicke. Das bin schon ich, erkenne mich, aber ich denke partiell durchaus anders. Wenn man sein ganzes Leben lang das Gleiche sagt, ist das ja auch unheimlich.
Ignatowitsch: Sie schreiben gerne mal Dinge, die gegen die Political Corectness verstoßen. Ist das bewusste Provokation?
Martenstein: Man muss auch dafür sorgen, dass es in den politischen Debatten in diesem Land vielstimmig zugeht, nicht einstimmig. Wenn ich das Gefühl habe, alle blasen ins gleiche Horn, dann werde ich reaktant. Das ist ein Fachbegriff. Reaktant ist, wenn man dann widerspenstig wird und sagt: Jetzt beziehe ich erst recht die Gegenposition.
Ignatowitsch: Ein Auszug aus einer ihrer letzten Kolumnen: "Immer wenn ich einen Anti-Trump-Text sehe, bekomme ich Kopfschmerzen. Es ist wie diese Wasserfolter, wenn dir dauern ein Tropfen auf den Kopf fällt, da wirst du wahnsinnig."
Martenstein: Ich habe gedacht: Bringst du es über dich, einen Pro-Trump-Artikel zu schreiben? Ich kann es nicht, weil ich ihn auch negativ sehe. Aber es ist irre, was für ein Stahlgewitter an Anti-Trump-Texten sich über dieses Land ergießt. Das ist ein Overkill. Total langweilig. Auch ein wenig absurd.
Ignatowitsch: Ein zweites Lieblingsthema von Ihnen: Gender-Studies. "Schlecht, schlechter, Geschlecht", hieß ein Artikel, indem sie die Genderforschung infrage gestellt haben. Übertreiben Sie da nicht?
Martenstein: Als ich zum ersten Mal einen Text geschrieben habe, der sich mit Gender und Feminismus mit den Mitteln des Humors auseinandergesetzt hat, war ich ehrlich überrascht, wie heftig der Gegenwind war. Ich hatte mich vorher über alles mögliche lustig gemacht, über Gott und die Welt, auch über Religion. Da gab es nie so einen Ärger. Und dann dieser Hass. Für mich war das ein Signal, dass ich mehr darüber schreiben muss, sozusagen ein Schrei, desensibilisiere mich.
"Es gibt Dinge, die mir zu privat sind, darüber schreibe ich nicht"
Ignatowitsch: Gibt es Sachen, über die sie nicht schreiben und haben Sie als Kolumnist eine Verantwortung?
Martenstein: Es gibt Dinge, die mir zu privat sind, darüber schreibe ich nicht. Verantwortung habe ich dafür, dass eine nennenswerte Zahl von Leuten die Kolumne gerne liest. Ich muss mich an die üblichen Regeln im Journalismus halten. Es muss stimmen, es dürfen keine Leute diffamiert werden. Was Spott und Kritik angeht, habe ich eine einfache Faustregel: Man kann Leute wegen allem am Schlafittchen packen, was sie sagen und tun. Was nicht zur Debatte steht ist, was sie sind, also unter anderem Geschlecht, Hautfarbe, Aussehen und Gebrechen etc. Das steht nicht zur Debatte, davon muss man, finde ich, die Finger lassen, aber alle Situationen, in denen sich die Leute auch hätten anders entscheiden können, etwas anderes sagen können, das ist für Kritik natürlich offen.
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