20 Jahre EU-Osterweiterung
Kommentar: Ein politisches Erfolgsprojekt

Zehn Länder, von Estland im Norden bis Zypern im Süden, traten am 1. Mai 2004 der Europäischen Union bei. Ein politisches Erfolgsprojekt, das die EU stabiler, vielfältiger und wirtschaftlich erfolgreicher gemacht hat, meint Peter Kapern.

Ein Kommentar von Peter Kapern | 01.05.2024
Jugendliche aus der polnischen Grenzstadt Slubice zelebrieren an der Oder gegenüber der deutschen Grenzstadt Frankfurt/Oder auf ihre Art und Weise den Anschluss an die Europaeische Union. 1.5.2004, Slubice / Polen
Feierstimmung am 1. Mai 2004: Jugendliche aus dem polnischen Grenzort Slubice feiern den EU-Beitritt Polens (imago images / Christian Ditsch)
"Lasst uns den Tag, an dem die Neuen kommen, zu einer Heimkehr machen", so heißt es in dem Gedicht „Beacons at Bealtaine“ von Seamus Heaney. Der irische Literaturnobelpreisträger hatte es für die Feiern zur großen EU-Erweiterung 2004 geschrieben, heute vor 20 Jahren.
Eine Heimkehr? Ja, genau das war es für die Staaten Osteuropas, die fast 50 Jahre lang unter der Knute des Sowjetimperialismus leben mussten, ohne Chance darauf, Teil des freiheitlichen europäischen Einigungsprojekts zu sein, obwohl sie schon immer zu Europa gehörten.

In Deutschland überwogen die Ängste

Doch mit dem Willkommen war es damals nicht weit her - abseits der Festreden und Jubelfeiern. Ängste und Befürchtungen hatten schon in den Jahren vor der Erweiterung um sich gegriffen.
Da gab es die Furcht, den Job zu verlieren, weil Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedstaaten auf den Arbeitsmarkt in den alten EU-Ländern drängeln könnten oder weil Unternehmer ihre Fabriken schließen und weit im Osten wieder aufmachen könnten. Zwei Drittel aller Deutschen sahen in der Osterweiterung der EU vor allem ein Risiko und keine Chance.

Deutschland als Profiteur

Deswegen ist es so wichtig, jetzt 20 Jahre später festzuhalten: Die Erweiterung der Europäischen Union 2004 war das erfolgreichste politische Projekt seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957. Sie hat der gesamten EU einen enormen Zuwachs an Wohlstand beschert - natürlich in erster Linie den neuen Mitgliedstaaten, die den größten Teil des ökonomischen Rückstands binnen zwei Jahrzehnten aufgeholt haben.
2004 lag deren durchschnittliche Wirtschaftskraft bei 30 Prozent dessen, was in der alten EU produziert wurde. Heute liegt sie bei 70 Prozent. In manchen Bereichen haben sie die alte EU längst überholt. Was den Standard der Digitalisierung oder das Sprießen von Start-ups angeht, lächeln die baltischen Republiken nur noch mitleidig über den ökonomischen Riesen Deutschland. Und der schöpft seine verbliebene Kraft ganz vorrangig aus der Erweiterung.
Kein anderes EU-Land profitiert derart stark von den Geschäften mit Osteuropa. Ein Beispiel nur: Jedes Jahr exportiert Deutschland mehr Waren in die kleine Slowakei als nach Indien. Aber selbst dieser gigantische ökonomische Erfolg der Erweiterung verblasst vor anderen ihrer Errungenschaften.
Dass die EU mit der Erweiterung weiteren 75 Millionen Menschen Freiheit und gemeinsam mit der Nato Sicherheit garantiert, überwiegt jeden Wohlstandsgewinn. Hinzu kommt, wie beschämend spät die alten EU-Mitglieder von den Hinzugekommenen gelernt haben, von wo die größte Bedrohung der Freiheit und der Sicherheit ausgeht. Vor allem die deutschen Pipeline-Barone wollten es jahrelang nicht hören.

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Gegen die Gefahr aus dem Inneren

Natürlich ist nicht alles glatt gelaufen in den letzten 20 Jahren. Die EU war nicht auf alle Eventualitäten vorbereitet. Sie hat es zum Beispiel nicht für möglich gehalten, dass ihre rechtsstaatliche Demokratie auch von innen gefährdet werden könnte - von Viktor Orbán, der sein Land mittlerweile zu einer korrupten Autokratie umgebaut hat. Wichtig ist jedoch zu betonen, dass Orbán keine Folge der Erweiterung ist. Es gab ein anderes Ungarn vor Orbán in der EU.
Über ihn aber haben die europäischen Christdemokraten jahrelang aus Gründen des Machterhalts schützend ihre Hand gehalten, bis Orbán sein Land im Griff hatte und die EU feststellen musste, dass sie rechtlich und institutionell auf so etwas nicht vorbereitet war.
Nur in kleinen Schritten gelingt es ihr jetzt, ein Instrumentarium zur Bändigung von Antidemokraten in europäischen Regierungszentralen zu entwickeln. Mittlerweile drohen Autokraten vom Schlager Orbáns auch in anderen Staaten im Westen der EU an die Macht zu kommen. Allerdings hat Polen gerade ein mustergültiges Beispiel dafür gesetzt, wie man die inneren Feinde der Freiheit auch wieder loswerden kann.

EU sollte mehr Erweiterung wagen

Welche Lehren also sollte die EU aus der Erweiterung von 2004 ziehen? Vor allem, dass auch die nächste Erweiterung zu einer Bereicherung führen, den europäischen Raum von Sicherheit und Freiheit erweitern wird. Zu lange schon werden die Staaten des westlichen Balkans vertröstet. Die Region wird damit zum Einfallstor für russische und chinesische Ambitionen.
Erst recht muss die Europäische Union Moldau und die Ukraine an sich binden, um Moskaus imperiale Träume platzen zu lassen. Das alles funktioniert aber nur, wenn die Politik für die Vergrößerung der EU wirbt, statt aus wahltaktischem Kalkül Ressentiments gegen jene zu schüren, die der EU noch nicht angehören.