Kommentar zu Bergkarabach
Die Rückkehr des Rechts des Stärkeren

Armenien ist nach dem Überfall Aserbaidschans auf die Provinz Bergkarabach nicht der einzige Verlierer, kommentiert Julian Hans. Es sei auch ein besorgniserregender Triumph der Gewalt über die Diplomatie und das internationale Recht.

Ein Kommentar von Julian Hans | 23.09.2023
Proteste in Jeriwan, der Hauptstadt von Armenien, zwei Männer tragen eine Fahne, eine Truppe von Soldaten sichert den Regierungspalast, 22. September 2023
In Armenien wächst der Druck auf Regierungschef Nikol Paschinjan, dem seine Kritiker zu große Nachgiebigkeit gegenüber Aserbaidschan vorwerfen. (IMAGO / ITAR-TASS / Alexander Patrin)
Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, die Auflösung der Sowjetunion sei ohne Blutvergießen vonstattengegangen. Unblutig war sie für den Westen. Der große Krieg der Atommächte, vor dem die Menschen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs jahrzehntelang gezittert hatten, blieb aus. Auch in Moskau, dem Machtzentrum des sowjetischen Imperiums, verlief der Übergang weitgehend friedlich. In der Peripherie aber brachen umgehend Kriege aus.
Der Abchasien-Krieg mit fast 20.000 Toten und mehr als 200.000 Vertriebenen. Der Konflikt in Moldau um die Region Transnistrien. Die meisten Opfer forderte der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan: 35.000. Trotz zahlreicher Initiativen internationaler Organisationen und Verhandlungsgruppen wurde keiner dieser Konflikte seitdem gelöst. Jetzt hat Aserbaidschan eine Entscheidung mit Gewalt erzwungen. In nur 24 Stunden haben Bakus Truppen die Provinz Bergkarabach unterworfen.
Dass der aserbaidschanische Diktator Ilham Alijew seit vielen Jahren zielstrebig auf diesen Moment hinarbeitete, war für jeden sichtbar. Die Einnahmen aus Öl- und Gasgeschäften, die er nicht in die eigene Tasche steckte, investierte er in die Rüstung. Im Herbst 2020 eroberte seine Armee sieben Provinzen zurück, die Armenien seit den 1990er-Jahren besetzt hielt.
Moskau zwang beide Seiten zu einem Waffenstillstand und versprach, die Sicherheit der Karabach-Armenier mit eigenen Soldaten zu gewährleisten, bis eine Einigung über ihren Status erzielt sei. Nun sahen diese Soldaten dabei zu, wie Aserbaidschan Fakten schaffte.

Alijew ist ein gefragter Partner für Russland und die EU

Für Alijew war der Moment günstig: Die Entwicklungen der vergangenen Jahre haben ihn zu einem gefragten Partner gemacht. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine will die EU ihr Gas nicht mehr in Moskau kaufen und bestellte dafür in Baku. Gleichzeitig wurde Aserbaidschan auch für Russland wichtiger, das seine Nord-Süd-Handelsrute über Iran bis Indien ausbaut, um Sanktionen zu umgehen. Israel hat großzügig Waffen und Spionagetechnik an Baku verkauft, es braucht den Verbündeten an der Grenze zu seinem Erzfeind Iran.

Armenien als Verlierer

Verlierer dieser Machtverschiebungen war Armenien. Das Land hat keine begehrten Rohstoffe zu bieten und ist abhängig von russischer Energie und von Russland als Schutzmacht. Armeniens Premier Nikol Paschinjan ist in dieser Entwicklung eine tragische Figur: 2018 hatte er in einer samtenen Revolution die alte Elite abgelöst.
Bis dahin war die armenische Politik von Männern dominiert, die entweder selbst in den 1990er-Jahren im Karabach-Krieg gekämpft hatten oder aus der Region stammten. Ihre Hardliner-Position im Konflikt mit dem Nachbarland konnten sie sich erlauben, weil sie sich sicher fühlten, solange sie treu zu Moskau hielten. Sie waren es, die 30 Jahre verstreichen ließen, ohne ernsthaft nach einer Einigung mit dem gedemütigten Nachbarn zu suchen, dessen militärische Stärke von Jahr zu Jahr wuchs.
Paschinjan versuchte den Spagat, sein Land auf einen demokratischen Pfad zu bringen, ohne mit Moskau zu brechen. Gleichzeitig suchte er das Gespräch mit Baku und wäre fast von seinem Volk davongejagt worden, als er 2020 die Überlegenheit der aserbaidschanischen Militärmacht anerkannte und die besetzten Territorien aufgab.
Als an diesem Mittwoch Aserbaidschans Truppen vorrückten, ließen die russischen Soldaten ihre Schutzbefohlenen im Stich. Die russische Propaganda verhöhnte Paschinjan noch zusätzlich als „Judas“ und gab sich alle Mühe, die Angst der Armenier in Wut gegen ihren Premier umzuwandeln.

30 Jahre OSZE-Verhandlungen – ohne Ergebnis

Es gibt aber noch mehr Verlierer: 30 Jahre lang hat die OSZE Verhandlungen zwischen beiden Staaten begleitet, ohne, dass ein Ergebnis erzielt werden konnte. Dass Aserbaidschan den Streit jetzt militärisch entschieden hat, ist auch ein Triumph der Gewalt über die Diplomatie und das internationale Recht – und der nächste Präzedenzfall nach Russlands Überfall auf die Ukraine.
Dass der Angriff während der jährlichen UN-Vollversammlung stattfand, hat eine bittere Symbolik: Während in New York Reden gehalten werden, schaffen Soldaten Fakten. Man muss fürchten, dass das Nachahmer findet.