Vertrauensfrage
Kommentar: Tag der Bewährung für das Grundgesetz

Die Ampel ist gescheitert, Olaf Scholz ein Kanzler ohne Mehrheit - er hat deshalb im Bundestag die Vertrauensfrage gestellt. Das ist im Einklang mit der Verfassung.

Kommentar von Stephan Detjen |
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (l) empfängt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zum Gespräch im Schloss Bellevue
Kanzler Scholz bei Bundespräsident Steinmeier, nachdem er im Bundestag die Vertrauensfrage verloren hat. Steinmeier muss innerhalb von drei Wochen entscheiden, ob der Bundestag aufgelöst wird und es zu Neuwahlen kommt. (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
Das Grundgesetz ist darauf angelegt, die Stabilität der parlamentarischen Demokratie durch mehrfach abgesicherte Verfahren und Kontrollinstanzen abzusichern. Das ist eine Lehre aus der Zerstörung der Demokratie in der Weimarer Republik. Andere, traditionsreichere Demokratien haben mehr Vertrauen in das freie Spiel der politischen Kräfte.
Im Vereinigten Königreich kann der Premierminister das Parlament fast nach Belieben auflösen und Neuwahlen einleiten, wann immer er sich und seiner Partei Vorteile davon erhofft. In Frankreich hat sich die ganze Republik gleich fünfmal neu gegründet und den zivilreligiösen Glaubenskern von Liberté, Egalité, Fraternité - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - in verschiedenen Varianten politischer Spielarten à la Français arrangiert.
Das Grundgesetz hat aus gutem Grund weniger Vertrauen in die befreiende Kraft von ungeplanten Zäsuren und politischer Disruption. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind zerbrechende Regierungen, vorgezogene Neuwahlen und fundamentale Systemveränderungen in der Geschichte der Bundesrepublik Ausnahmen.

Vertrauensfrage nach Artikel 68 – konstitutionell geordnete Bahnen

Vor diesem Hintergrund ist der heutige Tag, der das Scheitern der Ampelkoalition förmlich besiegelt, zugleich ein Tag der Bewährung für das Grundgesetz. Mit der Vertrauensfrage nach Artikel 68 bietet die Verfassung ein Verfahren, in dem auch die Krise einer Regierung in extrem herausfordernden Zeiten in konstitutionell geordnete Bahnen gelenkt wird.
Zu den Akteuren der Prozedur gehört auch der Bundespräsident, der heute nicht im Rampenlicht stand. Frank-Walter Steinmeier hat frühzeitig angekündigt, dass er die Auflösung des Bundestages erklären und damit den Weg zu vorgezogenen Neuwahlen bahnen wird. Zu den im Grundgesetz angelegten Sicherungen gehört, dass dies kein Automatismus ist.

Chance für die Demokratie

Der Bundespräsident fungiert im Verfahren nach Artikel 68 nicht nur als Bundesnotar oder höchstes Vollzugsorgan. Er muss im Zweifelsfall gewährleisten, dass die Parlamentsmehrheit die Vertrauensfrage nicht doch nur als Instrument nutzt, weil ihr die politische Stimmung gerade günstig scheint und Neuwahlen einen leichten Gewinn versprechen. Das ist heute nicht der Fall. Die Ampel ist gescheitert, Olaf Scholz ein Kanzler ohne Mehrheit. Es ist deshalb richtig, dass mit der Vertrauensfrage heute der Raum für das freie Spiel der politischen Kräfte geöffnet wurde.
Es begann mit einer harten, persönlichen und in Teilen unversöhnlichen Debatte zwischen den Spitzenpolitikern der Parteien, die das Land über mehr als ein Vierteljahrhundert in wechselnden Koalitionskonstellationen gemeinsam regiert haben. Wenn das der Vorgeschmack auf einen Wahlkampf war, der politische Polarisierung in der Mitte des Parteien-Systems erzeugt, ist das eine Chance für die Demokratie. Eine Bewährungsprobe bleibt es in jedem Fall.
Stephan Detjen
Stephan Detjen
Stephan Detjen, Chefkorrespondent von Deutschlandradio. Studierte Geschichtswissenschaft und Jura an den Universitäten München, Aix-en-Provence sowie an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Rechtsreferendariat in Bayern und Redakteur beim Bayerischen Rundfunk. Seit 1997 beim Deutschlandradio, zunächst als rechtspolitischer Korrespondent in Karlsruhe. Ab 1999 zunächst politischer Korrespondent in Berlin, dann Abteilungsleiter bei Deutschlandradio Kultur. 2008 bis 2012 Chefredakteur des Deutschlandfunk in Köln. Seitdem Leiter des Hauptstadtstudios Berlin sowie des Studios Brüssel.