Da ist er also, der erste Herbst in der „neuen Normalität“, wie es ja auch in der Pandemie so schön hieß. Ohne Maßnahmen. Und auch die Corona-Debatte ist nahezu in der Versenkung verschwunden. So schnell kann es gehen. Was wir hier gerade erleben, ist durchaus ein übliches Muster nach Krisen. Das große „Uff“. Das Aufmerksamkeitsfenster der öffentlichen Debatte ist geschlossen, schließlich jagt eine Krise die andere und da muss man schon mal verstehen, dass dieser Rückblick jetzt doch zu anstrengend ist. Dabei sind das Virus, das Leid, die Probleme längst nicht weg.
Der Berliner Sozial- und Gesundheitsforscher Klaus Hurrelmann hat diese Lage mit einer posttraumatischen Belastungsstörung verglichen – auf Gesellschaftsebene. Eigentlich hätten die Menschen Ruhe gebraucht. Bekommen haben sie sie nicht. Die Wirtschaft muss angekurbelt, die Klima- und Ukrainekrise müssen bewältigt werden.
Aufarbeitung und Austausch nötig
Aus vergangenen Krisen lässt sich allerdings lernen, was passiert, wenn keine Aufarbeitung geschieht. Wenn das Leid keinen Raum bekommt und Betroffene mit sich alleine sind. Und damit sind alle Arten von Betroffenheit gemeint, es ist eine lange Liste: Menschen, die Menschen verloren haben.
Menschen, die Long Covid haben – und für die es diese Woche einen runden Tisch gab, aber oft längst noch keine Behandlung. Kinder und Jugendliche, bei denen die Pandemie tiefe Spuren hinterlassen hat – und deren Familien, die nach wie vor Tag für Tag an der Belastungsgrenze stehen – oder darüber. Erzieherinnen, Erzieher und Lehrkräfte, die dies mit auffangen sollen, inklusive der Corona-Bildungslücken. Familien, Freundschaften, durch die sich in der polarisierten Impfdebatte ein Riss zog.
Und vor allem: Ärmere, die – das ist wissenschaftlich verbrieft – in der Pandemie die größte Last zu tragen hatten, auf allen Ebenen. Ohne dass es einen öffentlichen Aufschrei gab. Der Medizinhistoriker Malte Thießen vom LWL-Institut für Regionalgeschichte in Münster spricht sogar von einem Desinteresse an der sozialen Unwucht der Pandemie. Ein Grund, den er sieht: Es sei eben einfacher, eine unterschiedliche Betroffenheit mit sozialem Verhalten zu erklären als auf die zugrundeliegenden strukturellen Probleme zu schauen und diese anzugehen.
Mehr Miteinander statt Gruppenbildung
In der Pandemie wurde sich beäugt, manchmal sogar angefeindet. Team Vorsicht, Team Durchseuchung, Team sonst was. Und auch Expertinnen und Experten, Politiker haben hier mitgemacht. Am Ende ist dieses Verhalten zutiefst menschlich. In Krisen orientieren sich Menschen an ihren Gruppen, ihrer Lebenslage. Aber die Pandemie ist vorbei. Und wir könnten aus ihr so viel lernen.
Wir könnten lernen, bei gerade wieder steigenden Infektionszahlen, dass voll besetzte Arzt-Wartezimmer, Bahnen, Klassen- und Konferenzräume eben auch Virenschleuderräume sind. Dass etwa hybrider Unterricht die Lage dann erleichtern kann. Dass persönliche Anschreiben mit Einladung zum Impftermin das Potential haben, in Risikogruppen die Menschen zu erreichen, die sonst durchs Raster fallen. Oder: Dass Eltern in Atemwegserkrankungswellen Entlastung brauchen, auch damit sie ihre kranken Kinder in ihrer eigenen Erschöpfung nicht doch in die Betreuung schicken.
Aber allem voran könnten wir lernen: zuzulassen, dass andere einfach einmal erzählen. Das Leid nicht zu verstecken. Sich auf die Schultern zu klopfen, zu unterstützen und sei es erst einmal nur mit Worten. Und vielleicht auch einfach einmal zu sagen: Ich habe das damals nicht gesehen. Es tut mir leid.
Denn das würde am Ende auch ein wenig helfen, die anderen Krisen besser zu bewältigen. Denn Ungleichheitserfahrungen und das Gefühl von Überforderung, Kontrollverlust sind auch ein Nährboden für populistische und extremistische Einstellungen.
Kathrin Kühn, geboren Ende der 1970er in Paderborn, aufgewachsen in Dortmund an nicht-akademischem Küchentisch. Studium Journalistik und Volkswirtschaftslehre, mit Auslandszeit in Katowice/Polen. Volontariat im nordrhein-westfälischen Lokalfunk. Promotion in Kulturwissenschaften, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dortmunder Erich-Brost-Institut, parallel freiberufliche Nachrichtenmoderatorin im WDR. Später crossmediale Redakteurin und Volontärsausbilderin im WDR-Newsroom. 2021 dann Rückkehr in die Wissenschaft – zum Deutschlandfunk.