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Kommentar zu Frankreich
Das Land braucht dringend mehr Konsenskultur

Nach Inkraftsetzung der Rentenreform befindet sich Frankreich in einer sehr komplizierten Lage, kommentiert Christiane Kaess. Um aus dieser rauszukommen, müssten sich der Präsident und seine Gegner bewegen. Doch beide Seiten hätten sich verrannt.

Ein Kommentar von Christiane Kaess |
Proteste gegen die umstrittene Rentenreform in Frankreich. Demonstranten halten Schilder und Transparente, auf einem ist der französische Präsident Emmanuel Macron zu sehen, der in einer Mülltonne steckt.
Der Konflikt um die Rente habe die Stimmung so angeheizt, dass es schwer vorstellbar sei, wie die Gegner auf absehbare Zeit zusammenfinden sollen, meint Christiane Kaess (picture alliance / dpa / MAXPPP / Julien Mattia / Le Pictorium)
Der Präsident hat es eilig. Nur wenige Stunden, nachdem der Verfassungsrat die wichtigsten Teile der Rentenreform durchgewinkt hat, hat Emmanuel Macron das Gesetz auch schon unterzeichnet. Damit ist es in Kraft. Der Staatschef und die Regierung haben einen juristischen Sieg errungen. Aber das Land ist in Aufruhr und wird sich nicht so schnell beruhigen. Aus dem 1. Mai wollen die Gewerkschaften einen außergewöhnlichen Protesttag gegen die Rente mit 64 machen.

Die Rentenreform hinterlässt tiefe Spuren

Am 3. Mai wird der Verfassungsrat bekannt geben, ob er einen erneuten Antrag für ein Referendum über die Deckelung des Rentenalters bewilligt. Die Gegner der Reform setzen all ihre Hoffnung auf eine Volkbefragung. Das ist verständlich. Denn an die 70 Prozent der Menschen im Land sind laut Umfragen gegen die Rente mit 64. Aber der Weg zu einem Referendum ist lang und beschwerlich. Selbst wenn es dafür grünes Licht gibt, dürfen die Gegner der Rentenreform sich nicht zu viel erhoffen.
Nach dem Sieg vor dem Verfassungsrat können der Präsident und seine Minderheitsregierung nur kurz aufatmen. Denn das Kapitel Rentenreform hat tiefe Spuren hinterlassen. So schnell, wie der Präsident es schließen möchte, wird es nicht gehen. Und wie er ein neues Kapitel aufschlagen kann, ist völlig unklar. Die französische Presse beklagt ein Desaster für die Nation. Das mag nach französischer Art etwas zu schwarzgemalt sein. Aber Frankreich ist tatsächlich in einer sehr komplizierten Lage. Um aus dieser rauszukommen, müssten sich beide Seiten bewegen. Auf der einen der Präsident, auf der anderen seine Gegner.

Macrons Art ist nicht mehr angebracht

Emmanuel Macrons Art, sein Ding durchzuziehen, ist nicht mehr angebracht. Selbst wenn er das Rentensystem zurecht reformiert hat, schaffte er es nicht, mit seinen Argumenten zu überzeugen. Er schickte seine Premierministerin Elisabeth Borne an die vorderste Front, während er selbst im eigenen Land kaum mehr in Erscheinung trat. Stattdessen brüskierte er auf Terminen im Ausland internationale Partner mit irrlichternden Äußerungen zu China, Taiwan und den USA.
Mit seinen innenpolitischen Problemen hat das zwar nichts zu tun, aber es verstärkte den Eindruck, der französische Präsident sei der Realität entrückt. "In nichts nachgegeben - das ist meine Devise", hat Macron beiläufig in einem Gespräch auf der Baustelle von Notre-Dame gesagt. Wenn er diese Methode nicht ändert, ist fraglich, ob er noch vier Jahre weiterregiert.
Premierministerin Borne und die Minister haben diesen Kurs mitgetragen, der das Parlament beim Durchdrücken der Rentenreform stark einschränkte. Möglich machten dies ein außergewöhnlicher gesetzlicher Rahmen und spezielle Verfassungsartikel, von denen die meisten Französinnen und Franzosen noch nie in ihrem Leben gehört haben. Auch wenn der Verfassungsrat all dies als verfassungskonform anerkannt hat, für die hoch umstrittene Rente mit 64 war es nicht der richtige Weg.

Die Rechtsnationalen sind die großen Gewinner

Macrons Gegner aber haben sich genauso in ihrer Position verrannt. Die linke Opposition wird von La France Insoumise dominiert. Die Linkspopulisten sind zum enfant terrible der Nationalversammlung geworden. Sie trugen mit tausenden Änderungsanträgen dazu bei, dass die Abgeordneten nicht über die Erhöhung des Rentenalters abstimmen konnten.
Der Rassemblement National und Marine Le Pen locken nun die Wählerinnen und Wähler, mit einer extrem rechten Regierung die ungeliebte Rente mit 64 wieder loszuwerden. Laut Umfragen sind die Rechtsnationalen die großen Gewinner der Krise. Ihre Strategie, weniger auf die Pauke zu hauen und stattdessen vor allem vernünftig aufzutreten, ist aufgegangen.
Die konservativen Les Républicains, die schon seit Jahren für die Erhöhung des Rentenalters sind, haben sich selbst verleugnet. Sie konnten der Regierung keine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung garantieren. Somit ist unklar, wie die Regierung künftig überhaupt noch Reformen durchsetzen kann.

Annäherung in aufgeheizter Stimmung schwer vorstellbar

Die Gewerkschaften werfen dem Präsidenten zwar Sturheit vor und fühlen sich gekränkt, weil die Regierung keine Kompromisse beim Rentenalter machen wollte. Genau hier waren die Gewerkschaften aber auch unbeweglich. Nun will die Regierung bei weiteren Reformen des Arbeitslebens mit den Sozialpartnern zusammenarbeiten. Aber die sagen beleidigt Nein.
Frankreich hat nur eine schwache Kultur des Konsenses. Das Land braucht diese aber dringend. Der Konflikt um die Rente hat die Stimmung so angeheizt, dass leider schwer vorstellbar ist, wie die Gegner auf absehbare Zeit zusammenfinden sollen.