Kommentar zur Wahl in Frankreich
Alle werden verlieren

Beim ersten Wahlgang hat der extrem rechte Rassemblement National die meisten Stimmen bei der Parlamentswahl geholt. Die Aussichten auf die Stichwahl sind düster. Am Ende wird es viele Verlierer geben – nicht nur in Frankreich, kommentiert Christiane Kaess.

Ein Kommentar von Christiane Kaess | 01.07.2024
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verlässt die Wahlkabine am 30. Juni 2024
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und sein Bündnis haben im ersten Wahlgang zur Parlamentswahl verloren. Der extrem rechte Rassemblement National geht gestärkt aus der Wahl hervor. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Yara Nardi)
Bei dieser Wahl werden am Ende alle verlieren. Am meisten die französischen Wählerinnen und Wähler. Frankreich steckt in einer tiefen politischen Krise. Und ein Ausweg ist kurzfristig gar nicht vorstellbar.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es nach der Stichwahl am kommenden Sonntag entweder eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung für den extrem rechten Rassemblement National geben oder keiner der drei großen politischen Blöcke kann eine absolute Mehrheit der Sitze auf sich vereinen.

Szenario 1: Präsident und Regierung blockieren sich gegenseitig

Im ersten Fall käme es zu dem, was man in Frankreich „Kohabitation“ nennt. Präsident Macron wäre faktisch gezwungen, als Premierminister den Parteichef des Rassemblement National, Jordan Bardella, zu ernennen. Es käme dann wohl zu einer eher zähen Phase des Ringens als zu einem konstruktiven Regieren.
Die Macht des Präsidenten würde auf ein Minimum schrumpfen, aber sie wäre groß genug, um der Regierung Steine in den Weg zu legen. Wie sollte Macron zum Beispiel ein Gesetz unterzeichnen, das seine hart erkämpfte Errungenschaft, das Rentenalter auf 64 Jahre zu erhöhen, wieder abschafft?
Die einzige Hoffnung in einer solchen Konstellation ist, dass die Französinnen und Franzosen merken: die extrem Rechten können unsere Probleme noch weniger lösen als die Macronisten. Aber selbst dann könnten Bardella und Co. mit dem Finger auf den Präsidenten zeigen und sagen: Er blockiert uns.

Szenario 2: Politischer Stillstand in Frankreich

Im zweiten Fall, in dem keine politische Kraft die Mehrheit zum Regieren erlangt, droht Frankreich politischer Stillstand. In beiden Szenarien ist das Risiko groß, dass der RN bei der nächsten Präsidentschaftswahl einen Erdrutschsieg davonträgt. 

Frankreich-Wahl offenbart tiefe Risse in der Gesellschaft

Frankreich ist polarisiert wie niemals zuvor in der jüngeren Geschichte. Dahinter stecken jahrelange Versäumnisse. Es ist weder Macron noch seinen Vorgängern gelungen, die tiefen Risse in der Gesellschaft zu heilen. Vieles hat mit immer weiter wachsenden sozialen Unterschieden zu tun.
Jetzt ist es einfach geworden, populistische Heilsversprechen zu verkaufen, die schnelle Lösungen propagieren. Aber der Unmut darüber, von niedrigem oder Mindestlohn weder leben zu können noch einen ordentlichen Rentenanspruch aufzubauen, ist nachvollziehbar. Daran hätten moderate Parteien schon längst etwas ändern müssen, bevor das Land Populisten in die Hände fällt.
Aber auch die Wählerinnen und Wähler müssten sich die Mühe machen, genau hinzuschauen und hinzuhören, was hinter den Programmen der Parteien steckt und was die Konsequenzen ihrer Wahlentscheidung sind.
Das Ergebnis des französischen Urnengangs wird auch über Frankreichs Grenzen hinaus wirken. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU könnte auf Jahre als verlässlicher Partner ausfallen. Die Verlierer dieser Parlamentswahl in Frankreich werden also auch Deutschland und die Europäische Union sein.