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Kommentar: Israel unter Schock
Warum Israel in die Falle der Hamas tappen konnte

Trotz hochgesicherter Grenze war der brutale Angriff der Hamas in Israel möglich. Die politische Verantwortung für das Versagen der israelischen Armee und der Geheimdienste trage Premierminister Benjamin Netanjahu, sagt Journalist Benjamin Hammer.

Von Benjamin Hammer |
Familienangehörige trauern bei der Beerdigung von Oberst Roi Levy, dem Kommandeur der Eliteeinheit „Ghost“, auf einem Militärfriedhof in Jerusalem.
Trauer und Fassungslosigkeit in Israel: Beerdigung eines Armeeangehörigen, der beim Angriff der Hamas umkam. (picture alliance / UPI Photo / newscom / Debbie Hill)
Israel ist ein kleines Land. Fast jede und jeder kennt jemanden, zumindest über Ecken, der am Samstag ermordet wurde. Kennt jemanden, der stundenlang im Schutzraum ausharren musste, während draußen palästinensische Terroristen um sich schossen. Kennt jemanden, der oder die in den Gazastreifen verschleppt wurde. Sogar Kinder wurden entführt.

Vermeintliche Sicherheit am Gazastreifen

Bis zum vergangenen Samstag schien ein so brutaler und tödlicher Angriff der Hamas an Israels hochgesicherter Grenze unmöglich. Israel erlebt nun den vielleicht größten Schockmoment in seiner Geschichte.
Brutal gingen die militanten Hamas-Kämpfer auch bei einer Rave-Party in der Nähe zum Grenzzaun vor. Ein ausgelassenes Fest, auf dem Freude in Horror umschlug. Hunderte der jungen Menschen sind dort ermordet worden. Mehrere wurden in den Gazastreifen verschleppt, darunter auch eine deutsche Staatsbürgerin. Dass die israelischen Sicherheitskräfte die Feier nicht verhinderten, zeigt, wie sicher sie sich ihrer Sache glaubten.
Auf Tonaufnahmen, die Radiojournalisten aus dem Gazastreifen mitbringen, ist fast immer ein Surren zu hören. Es ist der Klang des Motors von israelischen Überwachungsdrohnen. Ein Geräusch, das zum Leben der zwei Millionen Palästinenser im Gazastreifen dazugehört.
Das Geräusch suggerierte, dass Israel über die Ereignisse im Gazastreifen Bescheid weiß. Über Telefonate, E-Mails und die Bewegungen von Menschen und militanten Kämpfern. Ein neuer Grenzzaun mit einer unterirdischen Komponente sollte Tunnel der Hamas in Richtung Israel ein für alle Mal verhindern. Die Botschaft war: Wir haben das im Griff.

Netanjahu trägt die politische Verantwortung

Deshalb wird die Frage, wie das passieren konnte immer lauter. Die Schuld und Verantwortung für den brutalen Angriff trägt die Hamas. Die politische Verantwortung für das Versagen der israelischen Armee und der Geheimdienste trägt Premierminister Benjamin Netanjahu. Ausgerechnet Netanjahu, den viele auch Mr. Sicherheit nennen und der immer wieder mit markigen Worten vor dem Iran warnte. Jenem Land, dass die Hamas unterstützt.
In Israel fragen viele, ob der Premier die falschen Prioritäten setzte. Einen Fokus auf das besetzte Westjordanland, das die aktuelle israelische Regierung in nie da gewesener Klarheit für sich beansprucht. Auf seine Koalition mit teilweise rechtsextremen Kräften. Und auf die sogenannte Justizreform, die ihm im Korruptionsprozess helfen könnte und Israel innenpolitisch spaltete.
In Kriegen und Krisen rückt Israel zusammen, auch diesmal. Reservisten, die wegen der Justizreform den Dienst einstellten, melden sich zurück. Keine Welle der Solidarität dürfte es hingegen gegenüber Benjamin Netanjahu geben. Dafür ist der Schock über das Versagen von Armee und Geheimdiensten zu groß. Dafür war er politisch schon vorher zu angeschlagen – und dafür ist die Zäsur nach diesem 7. Oktober 2023 zu groß.