Die Bekämpfung von Antisemitismus und der Schutz von Jüdinnen und Juden in Deutschland ist eine Aufgabe von Staat und Gesellschaft. Es geht um Ressentiments, die tief in Köpfen, Kulturen und Religionen verwurzelt sind, nicht nur gegen Juden, auch gegen Muslime. Es geht um Geschichte und Gegenwart.
Keine Einengung öffentlicher Diskursräume
Deshalb ist es wichtig, sich darüber zu verständigen, was Antisemitismus ist und wie er wirksam bekämpft werden kann. Es bedarf dafür der scharfen Instrumente des Rechtsstaats, aber in einer zunehmend diversen Gesellschaft ebenso einer freien Wissenschaft, vielfältiger Diskurse und kontroverser Debatten. Wenn es einen Konsens darüber geben soll, dass gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland einen besonderen Wert hat, kann er nicht allein mit staatlicher Autorität erzwungen werden.
Der Weg, den die Regierungsfraktionen mit ihrem Programm zur Bekämpfung des Antisemitismus eingeschlagen haben, ist deswegen problematisch. Er setzt einen Kurs fort, den der Bundestag vor vier Jahren mit seiner umstrittenen BDS-Resolution eingeschlagen hat. Sie zielte darauf ab, öffentliche Diskursräume aufgrund von vagen Verdachtsmomenten und politisch überdehnbaren Antisemitismusvorwürfen einzuengen oder ganz zu sperren. Gerichte haben es zu Recht für verfassungswidrig erklärt, die Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit unter Berufung auf die BDS-Resolution einzuschränken.
Genau diese Methodik aber soll nun ausgeweitet werden. So soll eine von der Regierung verordnete Antisemitismusdefinition, die sogenannte IHRA-Definition, von Strafverfolgungsbehörden und Empfängern staatlicher Fördermittel – also auch Wissenschafts- und Kultureinrichtungen – als allein gültiger Maßstab übernommen werden. Dabei wird die knapp 20 Jahre alte Definition selbst im Kreis ihrer Autoren inzwischen als unzeitgemäß und überarbeitungsbedürftig kritisiert. Für die wechselnden Netanjahu-Regierungen hat sich die IHRA-Definition, ebenso wie für autoritäre Gestalten von Trump bis Orban, vor allem als nützliches Instrument erwiesen, linksliberale Kritiker und Muslime gleichermaßen als Antisemiten zu delegitimieren.
Begriffe wie "Besatzung" oder "Apartheid" bald antisemitisch?
Gerade die Frage aber, wo Kritik an israelischer Politik in einen israelbezogenen Antisemitismus übergeht, muss in diesen Zeiten Gegenstand einer kontroversen Debatte sein können. Sie wird sich angesichts der Entwicklungen im Nahen Osten verschärfen. Die Regierung Netanjahus bereitet ihre Streitkräfte auf eine dauerhafte Besetzung des Gazastreifens vor und treibt die Landnahme extremistischer Siedler im Westjordanland voran.
Unterdessen fokussiert sich die staatlich gelenkte Antisemitismusbekämpfung in Deutschland darauf, Begriffe wie "Besatzung" oder "Apartheid" als antisemitisch zu verdammen. Sie werden auch von israelischen und jüdischen Wissenschaftlern immer öfter zur Beschreibung der Lage in ihrem Land verwendet.
US-Regierung geht auf Distanz zur Vision eines Großisraels
Während selbst die US-Regierung inzwischen offen auf Distanz zur Besatzungsagenda der israelischen Regierung geht, vermeidet die Ampelkoalition in ihrem Resolutionsentwurf selbst das notorische Bekenntnis zu einer Zweistaatenlösung – als habe sie auch die Vision eines Großisraels bereits verinnerlicht, die Netanjahu unverhohlen propagiert.
Die besondere Verbundenheit mit Israel und historische Verantwortung müssen zwischen dem Land und seiner Regierung unterscheiden können. Es gab einmal einen grünen Außenminister, der das mit Blick auf die Verbundenheit Deutschlands mit den USA auszudrücken vermochte: „Excuse me, I am not convinced“, hielt Joschka Fischer dem amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld 2003 entgegen, als sich die Vereinigten Staaten auf den Irrweg in den Irakkrieg machten.
Staatsverständnis der Netanjahu-Koalition liefert keine Antworten
Die rot-grüne Koalition hat dazu gegenüber einer von Rassisten und Populisten geprägten Regierung in Jerusalem nicht die Kraft. Stattdessen legt der grüne Vizekanzler Robert Habeck die deutsche Gesellschaft auf das Verständnis einer Staatsräson fest, das auf eine geradezu bedingungslose Solidarität mit der Politik Netanjahus hinausläuft.
In der viel gefeierten Videoansprache Habecks war eine Unterscheidung zwischen dem Staat Israel, seiner Regierung, einer tief gespaltenen Gesellschaft Israels sowie deutschen Juden kaum erkennbar. Zugleich schweißte Habeck auch die Deutschen zu einem ganz aus der biologischen Nachfolge der Täter geformten „Wir“ zusammen, dem sich – so wörtlich – „die hier lebenden Muslime“ bestenfalls durch Bekenntnisse zu Israel und Taten zum Schutz von Juden anschließen können.
Auf eine eigentümliche Weise spiegelt sich in diesem Gesellschaftsbild das ethno-nationalistische Staatsverständnis der Netanjahu-Koalition. Es kann indes keine Antworten auf die Fragen und Herausforderungen einer diversen Einwanderungsgesellschaft geben, nicht in Israel und nicht in Deutschland.
Offene Debatte in einer diversen Gesellschaft
Hier wie da geht es um die innere Verfasstheit von sich wandelnden Gesellschaften. Die Ampelkoalition versucht, sie durch eine Identitätspolitik zu klären, die darauf basiert, Perspektiven, Erfahrungen und Anliegen von wachsenden Minderheiten auszublenden. Selbst in den Ampelfraktionen ist das auf Skepsis gestoßen. Die Verabschiedung der Resolution wurde verschoben. Es wäre wichtig, dass die Koalitionsparteien die gewonnene Zeit für eine offene Diskussion darüber nutzen, ob sie mit dieser Form der Antisemitismusbekämpfung auf dem richtigen Weg sind.
Stephan Detjen, Chefkorrespondent von Deutschlandradio. Studierte Geschichtswissenschaft und Jura an den Universitäten München, Aix-en-Provence sowie an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Rechtsreferendariat in Bayern und Redakteur beim Bayerischen Rundfunk. Seit 1997 beim Deutschlandradio, zunächst als rechtspolitischer Korrespondent in Karlsruhe. Ab 1999 zunächst politischer Korrespondent in Berlin, dann Abteilungsleiter bei Deutschlandradio Kultur. 2008 bis 2012 Chefredakteur des Deutschlandfunk in Köln. Seitdem Leiter des Hauptstadtstudios Berlin sowie des Studios Brüssel.