Natürlich macht dieser Aufruf zum Kulturboykott gegen Deutschland viel Wirbel – wie immer, wenn der Vorwurf von Zensur und „Cancel Culture“ im Raum steht. Diesmal werden deutschen Kulturinstitutionen sogar wörtlich Methoden wie in der McCarthy-Ära vorgeworfen, als in den USA potenzielle Kommunisten von den Geheimdiensten verfolgt wurden. Dieser Aufruf trifft auf eine Kulturszene, die wie ein Damoklesschwert die Gefahr über sich spürt, von den Trägern die finanzielle und vom Kulturbetrieb die moralische Unterstützung entzogen zu bekommen. Beides, weil man sich politisch möglicherweise nicht so verhält, wie von der einen oder der anderen Seite erwartet.
Annie Ernaux einzig prominenter Name
Relevant aber ist der Text nicht. Nicht nur, weil es neben der französischen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux unter den rund 1.000 Unterzeichnern kaum andere mit Strahlkraft gibt. Was der Text konkret soll, scheinen seine Initiatorinnen und Initiatoren selbst gar nicht so ganz genau zu wissen.
„Internationale Kulturarbeiter*innen“, fordert der Text, sollten Einladungen von deutschen Kultureinrichtungen absagen. Und dann kommen wieder die Vorwürfe vom „anti-palästinensischen Rassismus und Zensur“ und von einer angeblich „genozidalen Militäraktion im Gazastreifen“. All das deckten deutsche Kultureinrichtungen, weil ihre Geldgeber schließlich überwiegend staatliche Stellen seien, so lautet der Vorwurf. Und wieder kein Wort über die rund 1.300 Toten am 7. Oktober, die 240 Geiseln, die gefoltert und vergewaltigt wurden, zum Teil starben und zum Teil immer noch gefangen gehalten werden.
Gelegenheit zur Nachfrage, wer und was mit dem Aufruf konkret gemeint ist – alle deutschen Kulturinstitutionen zum Beispiel –, gibt es nicht. Der Aufruf in den palästinensischen Nationalfarben Grün, Rot, Weiß und Schwarz hat weder ein Impressum noch eine Kontaktadresse.
Keine kritiklose Solidarität mit Israel
Stattdessen der Generalverdacht, alle deutschen Kulturorte folgten der deutschen Staatsräson, und die laute angeblich: kritiklose Solidarität mit Israel und damit kritiklose Unterstützung des grausamen Krieges im Gazastreifen. Wer sieht, wie kontrovers bei uns genau darüber debattiert wird, weiß, wie absurd und falsch der Vorwurf ist. Es gibt in deutschen Theatern und Museen keine staatlich verordnete Kritiklosigkeit. Eher im Gegenteil: Der in Israel geborene Pädagoge und Publizist Meron Mendel spricht von einer „gewissen Anfälligkeit für linke Radikalität“ in der Kulturszene. Tatsächlich haben Reaktionen auf den 7. Oktober in vielen Kulturhäusern viel zu lange auf sich warten lassen.
Darauf haben staatliche Stellen nicht immer klug reagiert. Über den Alleingang des Berliner Kultursenators Joe Chialo zum Beispiel, öffentliche Zuschüsse an bestimmte politische Bekenntnisse zu knüpfen, schütteln weite Teile der deutschen Kulturszene bis hinauf in Ministerien nur verständnislos den Kopf. Es gibt andere Beispiele für solch wenig durchdachte Maßnahmen.
Zerstörerische Boykottaufrufe
Meron Mendel hat gerade in dieser Woche eine kluge Rede in Dresden zu diesem Thema gehalten. Kunstfreiheit schließe ein, so Mendel, dass Menschen auch mit Sprache und Kunst konfrontiert werden können, die sie möglicherweise als verletzend empfinden. Stillschweigend hinnehmen müsse das niemand. Kritik und Protest gehörten genauso zur Meinungsfreiheit wie die Freiheit, anstößige Theaterstücke spielen zu dürfen.
Kontroversen auszulösen und damit Debatten anzustoßen – das ist eine wichtige Rolle, die die Kultur in einer freiheitlichen Gesellschaft hat. Boykottaufrufe, egal von welcher Seite, zerstören diese demokratische Funktion. Und sie spielen all jenen in die Hände, die – wie die AfD – finden, dass Kultur nicht pluralistisch, sondern brav und unpolitisch sein sollte.