Kursk-Offensive
Kommentar: Putins Glaubwürdigkeit ist erschüttert

Nach der ukrainischen Offensive in Kursk werden im russischen Fernsehen erstmals Zweifel am Sieg Russlands über die Ukraine laut. Putins Ende ist dennoch auf absehbare Zeit wenig wahrscheinlich.

Ein Kommentar von Florian Kellermann |
Russlands Präsident Putin am 12. August 2024 bei Beratungen zur Kursk-Offensive der Ukraine.
„Der Zar ist nackt“ – das sehen auch Beobachter im Ausland. Von Putins Drohung, Atomwaffen einzusetzen, ist nichts mehr zu hören, meint Florian Kellermann. (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Gavriil Grigorov / Kremlin Pool)
Vor gut drei Monaten trat der russische Präsident Wladimir Putin seine sechste Amtszeit an. Die Wahl war weder demokratisch noch fair gewesen. Proteste gab es dennoch nicht. Denn mit Putin verbinden die Russinnen und Russen ein zentrales Versprechen: dass er für ihre Sicherheit sorgt. Damit gewann er schon seine erste Wahl im Jahr 2000, als er ankündigte, bedingungslos gegen Terrorismus vorzugehen. Bei seiner jüngsten Amtseinführung im Mai wiederholte er dieses Versprechen. Zitat: „Ich versichere Ihnen, dass auch künftig die Interessen und die Sicherheit der russischen Nation für mich über allem stehen werden.“

Große symbolische Wirkung

Doch die Ereignisse der vergangenen elf Tage haben diese Worte als hohle Phrase entlarvt. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg stehen fremde Soldaten auf russischem Boden. Gemessen an der Größe Russlands ist es nur ein winziges Fleckchen Erde, das die ukrainische Armee im Bezirk Kursk eingenommen hat. Doch die symbolische Wirkung ist um ein Vielfaches größer. Die ukrainische Armee nimmt russische Soldaten gefangen – auf russischem Staatsgebiet. Sie versorgt russische Bürger mit Lebensmitteln. Sie holt die russische Flagge von öffentlichen Gebäuden. Das ist mehr als eine Niederlage für Putin, das ist eine Demütigung.
Auch die Details der ukrainischen Offensive kratzen an Putins Image. So glaubte der Kreml tagelang, er könne das Problem mit Lügen aus der Welt schaffen. Die Ukrainer seien an der Grenze abgewehrt worden, hieß es zunächst. Dann verkündete das Verteidigungsministerium mehrmals den Sieg über die eingedrungenen Truppen. Von den zigtausenden Menschen, die aus den Grenzregionen geflohen sind, ist zu hören: Vor allem diese Lügen machten sie wütend. Inzwischen redet die Kremlpropaganda die Lage im Raum Kursk wenigstens nur noch schön, Putins selbst spricht von einer „Situation“, die sich da ergeben habe.

Putin bricht Versprechen, die Sicherheit Russlands zu schützen

„Der Zar ist nackt“ – das sehen auch die Beobachter im Ausland. Jahrelang drohten Putin und seine Lautsprecher damit, Atomwaffen einzusetzen, falls dieser Krieg für Russland zu bedrohlich würde. Atomübungen wurden demonstrativ angeordnet und medial präsentiert. Davon ist jetzt nichts zu hören. Warum? Weil Putin nie erwogen hat, einen Atomkrieg vom Zaun zu brechen. Jetzt würden solche Drohungen nurmehr lächerlich klingen. Statt mit Atomwaffen kämpft die russische Armee mit Wehrdienstleistenden gegen die eingedrungenen Ukrainer. Obwohl Putin genau das zu Beginn der Invasion in der Ukraine ausgeschlossen hatte. Ein weiteres Versprechen, das er dreist bricht.

Zweifel am Sieg Russlands werden im Fernsehen laut


Die Erschütterung von Putins Glaubwürdigkeit ist bis in die Talkshows des kremlnahen Fernsehens zu spüren. Dort erklärt ein Regisseur auf einmal: Russland müsse sich darauf einstellen, dass es diesen Krieg auch verlieren könne. Er darf den Gedanken zu Ende führen, ohne von den Propagandisten niedergebrüllt zu werden. Ganz offenbar machen sich Zweifel am Kurs des Landes breit in der sogenannten russischen Elite.
Manche Kommentatoren, vor allem unter den Russinnen und Russen im Exil, sprechen bereits über Putins Ende. Das Szenario: Die erwähnte Elite könnte begreifen, dass Putin alles aufs Spiel setzt, auch ihren Wohlstand und ihre Sicherheit – und eine Palastrevolution anzetteln. Doch wahrscheinlich ist das auf absehbare Zeit nicht. Denn Putin hat in den fast 25 Jahren seiner Herrschaft dafür gesorgt, dass es im Land keine Alternative zu ihm gibt, keine Figur, die das Format und die Entschlossenheit hätte, um an seinem Stuhl zu rütteln. Putin kann noch viele Nackenschläge wegstecken, bevor er wirklich ins Wanken gerät.
Florian Kellermann, geboren 1973 in Nürnberg, hat an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Krakau Philosophie und Slawistik studiert. Seit vielen Jahren berichtet er aus den Ländern Mittel- und Osteuropas. Von 2015 bis 2021 war er Osteuropa-Korrespondent von Deutschlandradio mit Sitz in Warschau. Seit Mai 2021 ist er Russland-Korrespondent. Sein Berichtsgebiet umfasst auch Belarus und die Staaten der Kaukasusregion."