Kommentar zur Pflegeversicherung
Akute Einsturzgefahr bei nahendem Systemversagen

Die Pflegeversicherung kämpft mit finanziellen Engpässen und verliert an Legitimation. Trotz Beitragserhöhung bleibt eine echte Reform aus. Doch der hohe Problemdruck könnte die nächste Bundesregierung zu echten Veränderungen bewegen.

Von Birgid Becker |
Blick auf eine Person im Rollstuhl in einem Flur in einem Altenheim im Landkreis München.
Für viele Senioren stellt sich bei Eigenanteilen von rund 3000 Euro im Monat die Frage, warum weiterhin Pflegeversicherungsbeiträge gezahlt werden. (picture alliance / SVEN SIMON / Frank Hoermann / SVEN SIMON)
Die Pflegeversicherung hat kein Geld. Die Pflegeversicherung verliert ihren Sinn. Träfe nur eine der beiden Zustandsbeschreibungen zu, dann wäre diese wichtige Säule der sozialen Sicherung schon ziemlich wackelig. Treffen beide zu, dann besteht akute Einsturzgefahr. Und die besteht im System der gesetzlichen Pflege: akute Einsturzgefahr bei nahendem Systemversagen.
Zu den Finanzen: Die zum Jahresbeginn erfolgte Beitragssatzanhebung reicht nicht. Einzelne Pflegekassen leiden trotzdem unter Liquiditätsengpässen. Die werden innerhalb des Systems ausgeglichen, sind aber ein deutliches Alarmsignal – deutlicher als es das je gab in 30 Jahren Pflegeversicherungshistorie.

Hohe Kosten, fraglicher Nutzen

Zur Sinnhaftigkeit, genauer: dem Mangel daran. Bei einem Eigenanteil von knapp 3000 Euro im Monat darf sich ein pflegebedürftiger Mensch im Altenheim nun wirklich fragen, weshalb Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung bezahlt wurden – und weiterhin gezahlt werden. Das tut man ja, wie bei der gesetzlichen Krankenversicherung, lebenslang.
Da hilft es auch wenig, wenn man an Pflege-Gründervater Norbert Blüm erinnert, der die Pflegeversicherung stets als Teilkasko-Veranstaltung sah. Im Moment ist die Pflege eine Nahe-Null-Kasko-Versicherung; das Risiko, bei Pflegebedürftigkeit im Heim finanziell überfordert zu sein, geht Richtung hundert Prozent. So macht eine Versicherung schlicht keinen Sinn. Würde man so bei der Krankenversicherung argumentieren? Würde man da auch sagen, dass das Risiko im Krankheitsfall nur teilweise abgedeckt wird?

Noch keine akute Demographie-Krise

Gesetzliche Pflege- und Krankenversicherung funktionieren nach dem gleichen Muster. Sie sollten auch in der Realität in der gleichen Weise funktionieren.
Nun ist es nicht so, als senke sich das Damoklesschwert der Demographie bereits jetzt über das System der gesetzlichen Pflege; wer den Sozialstaat eh nicht gerne mag, führt jetzt schnell die Demographie ins Feld. Das stimmt aber nicht, noch sind die Boomer und Boomerinnen viel zu fit, um ein Problem für die Pflegekassen zu sein.
Was die Pflegeversicherung akut in die Finanz- und die Legitimationskrise getrieben hat, ist eine große Koalition aus vergangenem und jetzigem Bundesgesundheitsminister – der vorige aus der CDU, der jetzige aus der SPD. Das macht nicht so große Hoffnung, dass eine nächste Bundesregierung eine solide, tragfähige Reform der Pflegeversicherung über die Bühne bringt. Vielleicht – und das lässt doch hoffen – vielleicht ist der Problemdruck aber nun so hoch, dass es so etwas wie einen Zwang zu Einsicht und Reformtiefe bei der Pflegeversicherung gibt.