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Kommentar Krieg in der Ukraine
Keine Aussichten auf Frieden

Zu sehr viel mehr als Terror sei Russland im Krieg gegen die Ukraine nicht mehr in der Lage, kommentiert Florian Kellermann. Zu Ende gehen werde der Krieg wohl erst dann, wenn der Kreml sich eingestehe, dass er ihn nicht gewinnen könne.

Ein Kommentar von Florian Kellermann |
Ein zerstörtes Wohngebäude und ein zerstörtes Auto in Kiew nach einem russischen Raketenangriff
Ein zerstörtes Wohngebäude und ein zerstörtes Auto in Kiew nach einem russischen Raketenangriff (IMAGO / ZUMA Wire / Aleksandr Gusev)
Russlands Krieg in der Ukraine machte zum Jahreswechsel keine Pause. Im Gegenteil: Das Silvester-Wochenende zeigte wie im Brennglas, was der russische Präsident Wladimir Putin 2022 – in Anführungszeichen – „erreicht“ hat.
Viele Ukrainerinnen und Ukrainer mussten auch die Neujahresnacht im Schutzkeller verbringen. Kamikaze-Drohnen aus iranischer Produktion flogen auf Kiew und Charkiw zu. Der Kreml wollte den Menschen im Nachbarland auch diese Stunden, in denen sie in früheren Jahren im Kreise von Angehörigen und Freunden gefeiert hatten, zur Hölle machen. Dass er den Kampfgeist der Ukrainer damit nicht brechen wird, sollte der Kreml inzwischen verstanden haben. Terror zu verbreiten ist dem Kreml inzwischen zur Gewohnheit geworden.
Das andere Ziel der Drohnenangriffe: Die eigene Bevölkerung bei Laune zu halten. Russinnen und Russen sollen sich freuen darüber, dass es den widerspenstigen Ukrainern schlecht geht, und sie tun es. Der Telegram-Kanal des Kreml-Propagandisten Solowjow verkündete in der Silvesternacht: „Flächendeckender Luftalarm im gesamten Gebiet der Ukraine“. Er erntete damit über 20.000 Likes.
Zu sehr viel mehr als Terror ist Russland indes nicht mehr in der Lage. Die Ukraine gibt an, dass sie jüngst sämtliche angreifenden Kamikazedrohnen abschießen konnte. Echte Verzweiflung dürfte sich zum Jahresbeginn also nicht in Kiew, sondern in Moskau breitgemacht haben.
Zumal auch die Ukraine in der Neujahresnacht angriff, aber mit anderem Kaliber und anderer Stoßrichtung. Mit einem Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars zerstörte zu Mitternacht in Makijikwa, im besetzten Teil des Donezbecken, ein Hochschulgebäude, in dem sich russische Soldaten aufhielten. Russland räumt 63 Getötete ein – die wahrheitsgemäße Zahl dürfte also weit höher gelegen haben. Was russische Militärblogger daraufhin über ihre Kommandeure sagten: Idioten, Verbrecher, Pfuscher.
Den Russinnen und Russen wird immer deutlicher werden, dass dieser Krieg auch ihr Land und seine Zukunft zerstört. Der Kreml wird noch viel mehr seiner Bürger sinnlos verheizen, er wird die stark sinkenden Öl- und Gasexporte spüren, er wird weiter Rücklagen aufbrauchen. Ob dadurch im neuen Jahr endlich der innenpolitische Druck auf den Kreml wächst? Darüber lässt sich nur spekulieren.
Für die Ukrainerinnen und Ukrainer war es ein furchtbares Jahr. Und niemand kann sagen, wie lange ihr Leid noch andauern wird. Der Krieg wird erst dann zu Ende gehen, wenn die russische Staatsführung versteht und eingesteht, dass sie ihn nicht gewinnen kann. Dieser Punkt wird umso eher erreicht sein, je mehr Unterstützung die Ukraine bekommt. Das im Moment die einzige Gewissheit für 2023 – und an ihr sollte sich der Westen orientieren.
Florian Kellermann, geboren 1973 in Nürnberg, hat an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Krakau Philosophie und Slawistik studiert. Seit vielen Jahren berichtet er aus den Ländern Mittel- und Osteuropas. Von 2015 bis 2021 war er Osteuropa-Korrespondent von Deutschlandradio mit Sitz in Warschau. Seit Mai 2021 ist er Russland-Korrespondent. Sein Berichtsgebiet umfasst auch Belarus und die Staaten der Kaukasusregion."