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Kommentar
Wir haben zu wenig aus der Causa Lindemann gelernt

Die Staatsanwaltschaft Berlin hat die Ermittlungen gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann eingestellt. Hat der Fall die öffentliche Debatte über sexualisierte Gewalt weitergebracht? Kolja Unger hat erhebliche Zweifel.

Ein Kommentar von Kolja Unger |
Till Lindemann vor einem Mikrofon auf der Konzertbühne (Juni 2019)
Till Lindemann bei einem Rammstein-Konzert in Kopenhagen. (picture alliance / dpa / Gonzales Photo / Thomas Rungstrom)
Drei Monate ist es her, dass die Nordirin Shelby Lynn in den sozialen Medien über eine Aftershowparty nach einem Rammstein-Konzert in Vilnius geschrieben hat: von Gedächtnislücken und blauen Flecken. Wenig später werfen nach Recherchen von NDR, "Süddeutscher Zeitung", "Welt am Sonntag" und Zeit Online mehrere Frauen dem Sänger Till Lindemann sexuelle Übergriffe, Machtmissbrauch und teilweise den Einsatz von K.o.-Tropfen vor. Die Band dementiert und warnt vor einer Vorverurteilung. Die Debatte ist allerdings nicht mehr aufzuhalten. Die Staatsanwaltschaft Berlin ermittelt von Amts wegen - und legt den Fall nun zu den Akten. Aus Mangel an Verdachtsmomenten.
Was haben wir daraus gelernt? Leider recht wenig. Wir haben an vielen Stellen die Möglichkeit verschenkt, grundlegend über unseren Umgang als Gesellschaft mit sexualisierter Gewalt zu sprechen. Zwar sind sich jetzt sehr viele Leute bewusster, was die „Row Zero“ ist - die vorderste Reihe bei Rammstein-Konzerten, aus der heraus in einer geradezu frauenfeindlichen Art und Weise Groupies für private Partys gecastet wurden.

Das Rammstein-Shirt als Widerstandsakt

Jedoch: Rammstein verkauft genauso viele Tonträger und Konzerttickets wie zuvor. Auch wenn vor den Locations protestiert wird. Auf einmal ist es ein Akt des Widerstandes gegen einen vorverurteilenden Feminismus, sich ein Rammstein-Shirt anzuziehen. Die Vorwürfe gegen die Band stehen dennoch weiter im Raum. Sie werden weiter an Lindemann und auch an seinem ebenfalls beschuldigten Bandkollegen Christian "Flake" Lorenz haften bleiben, bis sie öffentlich entkräftet werden können.
Die Staatsanwaltschaft kritisiert, dass die mutmaßlich Geschädigten sich nicht nach Bekanntwerden der Ermittlungen gegen Lindemann an die Polizei, sondern an die Medien gewandt hätten. Gleichzeitig zeigt der Bericht von Shelby Lynn bei der Polizei in Vilnius, wie wenig gewillt die litauischen Beamten waren, ihre Aussage überhaupt erst aufzunehmen. Wie schwierig es überhaupt ist, sexualisierte Gewalt anzuzeigen.

Schlüsselrolle für den Opferschutz

Beratungsstellen in Deutschland sehen hier hohen Nachholbedarf, insbesondere in der Trauma-Sensibilisierung auf den Polizeiwachen und vor Gericht. Hierbei könnte auch der Opferschutz eine Schlüsselrolle spielen. Betroffene von sexualisierter Gewalt können sich bei der Polizei von jemandem ihres Geschlechts befragen lassen. Es gibt die Möglichkeit, Vertraute und Zeuginnen mitzubringen. Auch haben sie das Recht auf eine Prozessbegleitung.
Bevor sie überhaupt entscheiden, Anzeige zu erstatten, können sie die Spuren der Tat vertraulich und rechtskräftig sichern und somit selbst bestimmen, ob und wann sie Anzeige erstatten wollen. Über Täterstrategien und die eben geschilderten Möglichkeiten, die Betroffene haben, zu sprechen, hätte vielleicht weniger negative wie auch positive Aufmerksamkeit für Lindemann bedeutet. Auf lange Sicht hätte man aber dadurch dazu beitragen können, dass künftige Verfahren wegen sexualisierter Gewalt vielleicht weniger häufig wegen mangelnder Verdachtsmomente eingestellt werden müssen.