Kommentar zum Krieg in der Ukraine
Zeit, den Spieß umzudrehen

Der Ukraine fällt es immer schwerer, sich gegen Russland zu verteidigen, auch weil versprochene Militärhilfen nicht ankommen. Der Westen müsse endlich Verantwortung übernehmen und der Ukraine statt leerer Reden wirklich helfen, kommentiert Peter Sawicki.

Ein Kommentar von Peter Sawicki | 18.05.2024
Der ukrainische Präsident Selenskyj begrüßt den US-Außenminister Blinken in Kiew. Sie geben sich die Hand.
US-Außenminister Blinken traf den ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Der Besuch kam nicht bei allen gut an. (AP/dpa/Brendan Smialowski)
Wenn man den jüngsten Besuch von Antony Blinken in der Ukraine zynisch betrachtet, könnte man sagen: Musikalisch hat der US-Außenminister mehr Eindruck hinterlassen als politisch. Und nicht unbedingt einen positiven. Dass Blinken am Abend in einer teuren Bar Gitarre spielte, kam bei vielen in der Ukraine – selbst wenn der Gast dabei einen Rocksong über die Freiheit anstimmte – nicht gut an. Zum Feiern ist in der Ukraine beileibe niemandem zumute.
Weiterhin müssen Millionen Menschen zu allen Tages- und Nachtzeiten russische Luftangriffe fürchten. Dazu sehen sich die unzureichend ausgerüsteten Soldaten seit einer Woche einer weiteren Front gegenüber, da Moskaus Invasionstruppen nun auch in der Region Charkiw am Boden vorrücken.

Kiew-Reise von Antony Blinken ist eine Enttäuschung

Nun wäre es nicht gerecht, Antony Blinken Zynismus zu unterstellen. Der Demokrat gehört zu den aufrichtigen Unterstützern Kiews. Doch moralischen Rückhalt hat die Ukraine im Laufe der vergangenen zweieinviertel Jahre im Überfluss erhalten. Besuche westlicher Politiker müssen sich heute daran messen lassen, welche konkrete materielle Hilfe sie mit sich bringen. In dieser Hinsicht ist die Kiew-Reise von Blinken eine Enttäuschung.
Zwar hat er die Freigabe von zwei Milliarden US-Dollar für militärische Zwecke verkündet – musste jedoch eingestehen, dass die vor kurzem endlich im Kongress beschlossene Militärhilfe für die Ukraine doch nicht so zügig ins Land komme wie angekündigt.

US-Lieferung mit Waffen lässt auf sich warten

Die Lieferung zugesagter Ausrüstung lässt in großen Teilen weiter auf sich warten. Das gilt auch für zusätzliche Flugabwehrsysteme, was für die Ukraine besonders schmerzhaft ist. Seit Wochen können Putins Kampfbomber fast ungestört tonnenschwere Gleitbomben auf ukrainische Wohngebiete abwerfen, darunter auf die Millionenstadt Charkiw. Die Befürchtung, dass daraus ein zweites Aleppo werden könnte, also jene syrische Stadt, die Russland in Schutt und Asche bombte, ist nicht unbegründet.
Dass neben den USA auch die europäischen Unterstützer bisher nicht in der Lage sind, die Ukraine angemessen gegen diese Bedrohung zu schützen, ist eine Blamage. Bei aller wichtigen bisher geleisteten Hilfe muss der Westen erkennen, dass seine Bemühungen nicht ausreichen.
Erschwert wird der ukrainische Verteidigungskampf zusätzlich durch strategische Einschränkungen, die der Westen Kiew auferlegt hat. So sieht man bisher davon ab, mit eigenen Systemen russische Flugkörper abzuschießen, die ukrainische Ziele nahe der Grenze zu NATO-Staaten im Visier haben.

Westen sollte "erweiterte Luftverteidigung" einrichten

Die Regierung in Kiew bittet schon lange um diese Art der Hilfe und der Westen hat ein eigenes Sicherheitsinteresse daran, diesem Appell nachzukommen. Mehr als einmal sind bereits Trümmerteile oder ganze Raketen auf NATO-Gebiet gefallen. Der Westen sollte daher zügig eine „erweiterte Luftverteidigung“ für die Ukraine einrichten, wie sie Experten wie Nico Lange skizziert haben. Schon jetzt leidet die Ukraine wegen schwer beschädigter Kraftwerke an massiven Energieengpässen. Je größer sie werden, desto teurer wird es auch für den Westen, da er etwa mit Stromexporten an die Ukraine einspringen müsste.
Eine noch größere Fessel, die Kiew angelegt wird, ist das weitgehende Verbot, westliche Waffen gegen militärische Ziele auf russischem Gebiet einzusetzen. Diese Linie haben bislang vor allem die USA vertreten, offensichtlich getrieben vom Gedanken, Russland dadurch nicht zu allzu drastischen Gegenmaßnahmen zu bewegen. Dass dieser Ansatz gescheitert ist, zeigt die jüngste Offensive Moskaus in der Region Charkiw.
Die Ukraine musste mitansehen, wie Russland unbehelligt ihre Truppenstärke an der ukrainischen Nordgrenze erhöhen konnte – um dann eine neue Front zu eröffnen, während Kiew die Hände gebunden waren. Und all das vor dem Hintergrund ohnehin verzögerter Waffenlieferungen aus dem Westen.

Die Ukraine braucht (militärische) Hilfe

Nun hat die ukrainische Führung auch ihren eigenen Anteil an der verschärften Lage an den Fronten. Das jetzt in Kraft getretene neue Mobilisierungsgesetz kommt reichlich spät. Zu Recht werden überdies Lücken beim Bau von Verteidigungsanlagen rund um Charkiw angeprangert.
Das sollte im Westen aber niemanden dazu verleiten, sich aus der eigenen Verantwortung zu stehlen. Jetzt, da die Ukraine immer mehr unter Druck gerät, ist es Zeit, den Spieß umzudrehen – und dem Land schädliche Fesseln bei seiner Verteidigung gegen Putins Invasoren abzulegen.