Es ist gerade mal ein Jahr her, dass Olaf Scholz sich täglich dafür prügeln lassen musste, dass er noch keine Leopard-Kampfpanzer an die Ukraine liefern wollte. Osteuropäer, Medien, Opposition, Thinktanker und eine „Panzer“-Allianz in der eigenen Ampel-Koalition warfen dem Kanzler Zögerlichkeit vor.
Anfang 2024 ist die Lage grundlegend anders: Plötzlich übernimmt Scholz die Rolle des Dränglers in der Ukraine-Politik. Im Dezember setzte er maßgeblich die Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen mit der Ukraine durch. Scholz gehört zu den treibenden Kräften, um der Ukraine mit 50 Milliarden Euro Etathilfen bis 2027 finanzpolitische Stabilität zu geben. In ungewohnter Klarheit pocht er jetzt vor allem darauf, dass die anderen EU-Partner bis zum EU-Sondergipfel Anfang Februar sagen sollen, was sie der Ukraine an Militärhilfe liefern wollen – die bekannten Zusagen reichten jedenfalls nicht aus. Deutschland selbst verdoppelt die Militärhilfe 2024 auf acht Milliarden Euro.
Putins Plan droht aufzugehen
Ganz freiwillig kommt der Wandel nicht. So hat Russland seit Jahresanfang die Angriffe auf die Ukraine derart verstärkt, dass die Sorgen in westlichen Hauptstädten wachsen, ob die Ukraine dem Druck Stand halten kann. Der Plan von Waldimir Putin droht aufzugehen, nämlich die Ukraine und den Westen durch einen langen Abnutzungskrieg zu zermürben.
Und in den USA scheint Putin mit seiner Strategie bereits Erfolge zu erzielen. US-Präsident Joe Biden wirkt in den letzten Monaten vor der Präsidentschaftswahl gerade in der Ukraine-Politik wie eine „lame duck“. Er hat Kiew milliardenschwere Waffenpakete versprochen, bekommt dafür aber keine Zustimmung im US-Kongress. Die USA sind zudem durch den Nahost-Krieg und den nötigen Schutz der Schifffahrt im Roten Meer gebunden.
Plötzlich entdecken Ukrainer und Europäer erschreckt, dass sie vielleicht schon Monate vor der befürchteten Wiederwahl von Donald Trump auf sich allein gestellt sein könnten. Dabei dauert es Jahre, bis die auf Friedenszeiten ausgerichteten Rüstungsbetriebe in Europa ihre Produktion so stark erhöhen, dass sich die EU sowohl gegen ein aggressiveres Russland wappnen als auch die Ukraine mit dem nötigen Material beliefern könnte. Das autoritär regierte Russland hat seine Ökonomie dagegen bereits seit Monaten auf eine Kriegswirtschaft umgestellt.
EU-Staaten müssen den Weckruf hören
Deshalb kann man den Scholz-Appell an die EU-Partner als Hilfe- und Weckruf verstehen. Die EU-Staaten müssen in die Bresche springen und umsteuern – schon weil sie am stärksten von einem russischen Sieg in der Ukraine betroffen wären. Die deutsche Taurus-Debatte lenkt dabei nur vom Kernproblem ab: Der Ukraine fehlen derzeit vor allem Munition und Raketen für die Luftabwehr.
In dieser Situation muss Deutschland notgedrungen eine Führungsrolle einnehmen. Die anderen großen EU-Volkswirtschaften Frankreich und Italien sehen für sich erkennbar andere Prioritäten, Polen ringt mit innenpolitischen Problemen. Da nutzt es nichts, dass sich die meisten Europäer in der Analyse eigentlich einig sind, dass ein Sieg der Invasionstruppen Russlands verheerend für die Sicherheit ganz Europas wäre.
Deshalb wächst in Berlin die Angst, in der Ukraine-Politik am Ende ganz alleine dazustehen. Denn in einigen europäischen Ländern wächst die Sehnsucht nach einem Kriegsende. Schon redet der italienische Verteidigungsminister davon, dass die Zeit für Diplomatie gekommen sei – paradoxerweise mit dem Argument, dass die Ukraine die Russen nicht entscheidend aus den besetzten Gebieten zurückdrängen konnte.
Ein mutiger, aber einsamer Antreiber?
Scholz und die Ampel-Regierung befinden sich gerade in einem Wahljahr mit Landtagswahlen im Osten Deutschlands in einer schwierigen Situation. Aus geopolitischen und übrigens auch humanitären Gründen gilt es als notwendig, der Ukraine verstärkt gegen die russischen Angriffe zu helfen. Aber innenpolitisch war und ist es für Scholz einfacher, als Zauderer beschimpft zu werden als nun als mutiger, aber einsamer Antreiber zu enden.
Denn gerade im Osten argumentiert vor allem die AfD bereits, dass die Bundesregierung das Geld doch lieber für Belange in Deutschland ausgeben sollte. Die nötige Solidarität mit der überfallenen Ukraine oder der Blick auf die Ängste der baltischen EU-Partner drohen fatalerweise den Hintergrund zu rücken.
Andreas Rinke, Jahrgang 1961, studierte in Hannover, London und Paris Geschichte, Politik und Soziologie. Der promovierte Historiker volonierte bei der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ und arbeitete dort zunächst in der Lokal-, dann in der Politikredaktion. Im Jahr 2000 wechselte er zum „Handelsblatt“ nach Berlin, wo er zuletzt stellvertretender Büroleiter und Chefkorrespondent Außenpolitik war. Seit Jahr 2010 arbeitet er für die internationale Nachrichtenagentur „Reuters“. Dort ist er politischer Chefkorrespondent des deutschen Dienstes und Teamleiter Politik. Er ist Autor der Bücher „11 drohende Kriege“ und „Das Merkel-Lexikon“.