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Kommentar und Bekenntnis

Kaum hatte Klaus Wagenbach, nach Lehr- und Lektorenjahren unter anderem bei Suhrkamp und S. Fischer, vor vierzig Jahren seinen eigenen Verlag gegründet, startete er sogleich eine ehrgeizige Unternehmung. Heinrich Böll, Walter Höllerer, Hans Werner Richter, Walter Jens, Günter Eich, Marie Luise Kaschnitz, Ilse Aichinger, Günter Grass, Siegfried Lenz, praktisch die halbe Gruppe 47 also, konnte er für sein Projekt gewinnen. Dazu große alte Männer und Frauen des Exils, die sich für die DDR entschieden hatten, Arnold Zweig, Stephan Hermlin und Anna Seghers, und diejenigen, die im Ausland geblieben waren, Zuckmayer, Nelly Sachs und Peter Weiss, dazu die Lyriker Johannes Bobrowski und Peter Huchel, dazu die damals noch ganz oder relativ Jungen aus West und Ost, Hubert Fichte, F. C. Delius, Wolf Biermann – sie alle, insgesamt 43 Namen, versammelt der Jungverleger Wagenbach mit Originalbeiträgen in einer Anthologie.

Von Julia Schröder |
    Und das ist kein x-beliebiges Lesebuch: Atlas ist sein Titel, und zu Wort kommen sollen darin, wie der Untertitel verheißt, Deutsche Autoren über ihren Ort, mit kursiver Betonung auf "ihren".

    Die Sammlung erschien im Oktober 1965, und sie verstand sich ausdrücklich als gesamtdeutsches Unternehmen. Es war der letzte Augenblick für so etwas; im Dezember tagte das verhängnisvolle 11. Plenum des ZK der SED, das als "Kahlschlag"-Plenum in die Annalen einging, und unterband neben vielem anderen auch das literarische Hin und Her über die innerdeutsche Grenze hinweg.

    So ist dieser "Atlas" zwar schon im Titel aufs Räumliche, eben auf den "Ort" gerichtet, gleichzeitig aber Zeugnis eines ganz bestimmten Moments in der Zeit – und zwar nicht nur durch den Zeitpunkt der Entstehung und Veröffentlichung, sondern auch in eben dieser Zusammenstellung. Wagenbach bringt die Sammlung jetzt als bibliophile Neuausgabe zum eigenen Vierzig-Jahr-Jubiläum heraus. Das ist mehr als die Reminiszenz an einen frühen Höhepunkt in der Geschichte des Verlags, der sich die kritische Ausleuchtung der Verhältnisse dieser Republik zur Aufgabe gemacht hat. Es gibt auch Anlass, sie näher ins Auge zu fassen als historisches Dokument und als Dokument der Literaturgeschichte.

    Bei meinen Überlegungen, welche menschliche Siedlung oder welche Gegend einer Landschaft am besten dazu geeignet sei, in diesem Atlas umrissen zu werden, tauchten anfangs viele Möglichkeiten auf. Doch von meinem Geburtstort aus, der den Namen Nowawes trägt, und der den Informationen nach gleich neben Potsdam an der Bahnstrecke nach Berlin liegen soll, über die Städte Bremen und Berlin, in denen ich meine Kindheit verbrachte, bis zu den Städten London, Prag, Zürich, Stockholm, Paris, in die ich später verschlagen wurde, nehmen alle Aufenthaltsorte etwas Provisorisches an (...) Nur diese eine Ortschaft, von der ich seit langem wusste, doch die ich erst spät sah, liegt gänzlich für sich. Es ist eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam. Ich habe selbst nichts in dieser Ortschaft erfahren. Ich habe keine andere Beziehung zu ihr, als dass mein Name auf den Listen derer stand, die dorthin für immer übersiedelt werden sollten. Zwanzig Jahre danach habe ich diese Ortschaft gesehen. Sie ist unveränderlich. Ihre Bauwerke lassen sich mit keinen anderen Bauwerken verwechseln. - Auch sie trägt einen polnischen Namen, wie meine Geburtstadt, die man mir vielleicht einmal aus dem Fenster eines fahrenden Zuges gezeigt hat. Sie liegt in der Gegend, in der mein Vater kurz vor meiner Geburt in einer sagenhaften kaiserlich-königlichen Armee kämpfte. Von den übriggebliebenen Kasernen dieser Armee wird die Ortschaft beherrscht. Zum besseren Verständnis der dort Werksamen und Ansässigen wurde ihr Name verdeutscht.

    Peter Weiss handelt hier von Auschwitz. Dass er von allen Orten dieser Welt Auschwitz als "seinen" Ort kenntlich macht, wundert den Leser von Weiss Werks wenig; die Tatsache, der "Ortschaft, für die ich bestimmt war", wie er schreibt, entronnen zu sein, und die Frage, mit welchem Recht, ist sein Lebensthema gewesen. Das Schreiben über Auschwitz ist aber zugleich exemplarisch für die ganz unterschiedlich situierten Geschichten dieses Buchs. 1965 ist es genau zwanzig Jahre her, dass die Alliierten mit ihrem Sieg über Deutschland und das NS-Reich die Überlebenden aus den Konzentrationslagern befreiten und mit der Shoah die deutsche Schande offenbar wurde. Die Mehrzahl der an diesem Band beteiligten Dichter und Literaten kommt um die deutsche Katastrophe nicht herum, kaum ein Ortsname auf diesem "Atlas", der nicht von Massenmord und Kriegszerstörung kündet. Kaum einer dieser Orte trägt nicht – mehr oder weniger sichtbar – die Spuren von innerer und äußerer Verheerung, von spezifischen Verlusten, die seinerzeit noch ganz akut waren und uns Heutigen historisch werden oder zu werden scheinen.

    Manche freilich verstanden Wagenbachs Aufforderung, sie mögen schreiben über einen Ort, "der für ihre Arbeit oder ihr Leben wichtig gewesen war", vollkommen wörtlich - wie Wolfgang Hildesheimer mit einer irdischen Epiphanie in der verlassenen Margarinefabrik am Rand eines nordischen Fjords – und entzogen sich dem Zwang, Zeugnis abzulegen von etwas, das doch ohnedies jedermann bekannt zu sein hatte. Dabei ist Hildesheimer mit seinem norwegischen Erlebnis die große Ausnahme; die Orte der anderen sind allesamt da, wo deutsch gesprochen wird oder bis eine Generation zuvor deutsch gesprochen wurde, in Königsberg, Danzig, Berlin, Potsdam, Mainz, Prag, Butzbach, Darmstadt.

    Interessanterweise – auch da ist Hildesheimer die Ausnahme - spielen die wenigsten der jeweils nur ein paar Seiten langen Erzählungen in der Gegenwart des Schreibenden. Deren Ort, das ist meist ein Ort der Vergangenheit, der Kindheit oder der Erinnerung. Für Carl Zuckmayer ist das Vorkriegs-Mainz die untergegangene Stadt Vineta, für Peter Härtling die Biskuitballerina unterm Glassturz in der Nürtinger Flüchtlingseinquartierung das Symbol in die Irre gehender Hoffnung auf eine Heimat, nachdem Kinderland abgebrannt ist. Und Günter Kunert fährt mit der Berliner S-Bahn und sieht, durch eine plötzlich sich auftuende Fensteröffnung in einer Brandmauer, geradewegs in die Parallelwelt der fortgeschriebenen Vergangenheit hinein - ohne sie je erreichen zu können:

    Unter den Anwesenden fanden sich ausschließlich bekannte Gesichter, kein Fremder war dabei gewesen. Nur waren viele von ihnen seit je verschollen oder verbrannt oder erschlagen oder weggewandert oder zu Greisen geworden; dort aber waren sie alle versammelt (...) So kann ich nichts tun, als so oft es mir möglich ist, mit der S-Bahn zu fahren. Einmal jede Woche bin ich unterwegs auf der Strecke, hin und her und hin, und jedes Mal beim Vorbeihuschen nehme ich auf, was das Zimmer mir bietet, wo wir alle heiter und wahrhaft bei uns und beisammen sind, Lebende und Tote, und wo wir uns über lauter lautere Nichtigkeiten unterhalten (...) Wieder und wieder weiß ich, trägt mich der Zug vom Fenster fort: könnte ich ein einziges Mal dort eintreten und mich vereinigen mit mir, der ich das apfelvolle Porzellankörbchen nie leer essen kann, so wäre alles ungeschehen, was Wagenladungen von Worten niemals zudecken werden. - Einmal im richtigen Moment eintreten, und ich wäre erlöst. Und die Stadt dazu.

    Da wird nicht nur Kafkas bekannte Unheilsvermutung "Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen" in eine Art hoffnungsloser Hoffnung verkehrt. Da wird auch die Erinnerung zum Reich rückwärtsgewandter Utopie, wo der Dichter eine ganz bestimmte Aufgabe wahrnimmt: wer immer strebend sich bemüht, der Vergangenheit eingedenk zu sein, der könnte uns alle erlösen.
    Seit 1965, seit dem Erscheinen des Wagenbach´schen Atlas, sind fast vierzig Jahre vergangen. Als die Sammlung erschien, war es ebenfalls knapp vierzig Jahre her, dass Rudolf Borchardt mit seiner berühmten Anthologie "Der Deutsche in der Landschaft" einen Meilenstein in der Verständigung des deutschen Geistes mit sich selbst zu setzen versucht hatte. Auch diese Sammlung besteht aus Ortsbeschreibungen und -erkundungen deutscher Autoren, wobei Borchardt allerdings ausnahmslos einschlägige Prosa verstorbener Autoren aus dem 18. und 19. Jahrhundert versammelte. Von einigen von ihnen, Bettine Brentano oder Annette von Droste-Hülshoff, Kleist oder Immermann, hat Borchardt Beschreibungen von Städten und Landschaften in Deutschland aufgenommen. Die meisten Texte aber – von Heinse, Hammer-Purgstall oder den Brüdern Humboldt - sind in fernen Gegenden unterwegs, in Südamerika, Italien, Griechenland, auf der Krim, auf Java, Teneriffa, Tahiti oder Rhodos. Dennoch hat Borchardt in seinem Nachwort geschrieben, dies sei "ein nur innerhalb der deutschen geistigen Geschichte und Charakterwelt, ein nur deutsch mögliches Buch".

    Und zwar, weil der Deutsche, als "eigener Schiffahrt fast ganz Beraubter", als eigener Kolonialinteressen "fast ganz Enterbter" und im Unterschied etwa zum praktischen Engländer allen zweckorientierten Vergleichungen abhold, weil dieser Deutsche nämlich "der alte Wanderer seiner Geschichte, der Gast auf Erden" sei und sich so empfinde: "Die Welt geht in ihn ein, indes er in der Welt aufgeht."

    Man merkt es schon an diesen wenigen Sätzen: "Der Deutsche in der Landschaft" sollte nicht nur die diversen Landschaften zur Geltung bringen. Die Auswahl der Stücke – allesamt klassisch-romantischer Provenienz – sollte, ein knappes Jahrzehnt nach dem Ende des ersten Weltkriegs, den Deutschen in besonderem Licht erscheinen lassen, sollte, wie Borchardt es abschließend ausdrückt, "eine Restitution verlorener deutscher Geistergröße" leisten, die Rückbesinnung auf das, "was vielen, einem Geschlechte, schuldig und ohne Schuld, abhanden kam", sollte also jene "kummervolle Gelehrsamkeit" aufrufen, die spezifisch interessierte Melancholie, die nicht erst Borchardt und ihm nicht zuletzt an deutscher Landschaftserfahrung auffiel.

    Auf den ersten Blick könnte Klaus Wagenbachs Unternehmung von 1965 der borchardtschen von 1927 ferner nicht sein. Nicht allein, weil Borchardts konservative Kulturkritik einem erklärten Linken wie Wagenbach von vornherein suspekt sein muss (auch wenn der eine mit dem anderen die Liebe zu Italien teilt). Es verhält sich vielmehr so, dass Rudolf Borchardt, der denkbar entschiedenste Deutsche, der während der NS-Zeit als Jude geächtet und verfolgt wurde, als Fünzigjähriger von sich selber schrieb:

    Ich habe keine Heimatstadt gehabt und gekannt und erst spät erfahren, dass ich ein Heimatland habe; dass ich ein Vaterland habe, erst an mir selber in reifen, bitteren Stunden.

    Der Mittdreißiger Wagenbach, dem das Schicksal der Flakhelfergeneration um gerade ein Jahr erspart geblieben war, hatte dagegen – jedenfalls scheint es so in seiner Vorbemerkung zur Erstausgabe des "Atlas" - mit Deutschland als Begriff, gar als durch Literatur bestimmte Gemeinschaft, als, mit Hofmannsthal zu sprechen, "geistigem Raum der Nation" kein Problem; von Deutschland ist gar nicht die Rede, "deutsch" kommt lediglich als Adjektiv vor, und durchzusetzen ist da nichts, außer dem Definitionsanspruch der Beiträger:

    (Dieser Atlas) kehrt zurück zum Begriff der Alten von Geografie als einer Mischung aus Beschreibung und Erklärung. Ein Atlas, der nicht von Bevölkerungszahlen ausgeht, sondern von Bewohnern, der Zeichenerklärung wörtlich nmmt, der nicht Höhenunterschiede vermerkt, sondern Unterschiede in Bewusstseinslagen und Verhaltensweisen. Ein Atlas, dessen Gradnetz von Ort zu Ort wechselt und dessen Maßstab nicht von Instrumenten gesetzt wird: Geometer sind vielmehr Schriftsteller, deutsche Autoren der Gegenwart, die "ihren" Ort in diesen Atlas eintragen.

    Tatsächlich geht es Wagenbach wie Borchardt um den Versuch, noch einmal etwas Ganzes herzustellen, letztlich eine Art Verständigung deutscher Geister mit ihresgleichen, beim einen über die Zeiten, beim anderen über die deutsche Teilung hinweg – ein prekäres Unterfangen, hier wie dort. Was die von ihm ausgewählten Beschreibungen von Landschaften im weitesten Sinne, vom Meer im Allgemeinen bis zu Nizza im Besonderen, gemeinsam haben, versucht Borchardt in seinem Nachwort zu klären, ohne mit seinen Bemerkungen zum Ineinander von Poesie und Wissenschaft wirklich Klarheit zu schaffen.

    In Wagenbachs Atlas konnten die Autoren schreiben, was sie wollten, und so findet sich Herbert Heckmanns parabelhafte Kalendergeschichte über Die Wurstesser in Zeiten der Koppelschlösser und blank gewichsten Schaftstiefel neben Karl Krolows unguten Erinnerung ans Aufwachsen im nach feuchtem Loden riechenden Hannover. Johannes Bobrowskis meisterhafte Erzählung Der Mahner fängt mit scheinbar ganz harmlosen Anekdoten an und endet bei der Zerstörung Königsbergs und der Ermordung der Anekdotenhelden. Ilse Aichinger, in "Kleist Moos Fasane", erinnert sich ans Beerenpflücken in Oberösterreich und an deren Geruch und an die dunklen Jahre, in denen so etwas nicht mehr möglich war.

    Peter Rühmkorf legt, in einer Art Absagebrief an den Herausgeber, den Finger in die Wunde. Er kriege die poetische Kurve nicht von seinem Italienaufenthalt zu seinem Warstader Herkommen. Von der Umwandlung der historischen Aufladung dieser Orte in Poesie zu schweigen, und überhaupt:

    Was bietet uns denn schließlich, lehrt, sagt und singt uns diese so genannte Geschichte? Oh, ich habe es schon begriffen, was sie uns singt und sagt, denn ich habe sie reden hören: gebrochen, und aus Scherben von Scherben. Und ich weiß auch, was sie uns lehrt: das Unverbesserliche!

    Und überhaupt ist das Scherbenlesen auf Kommando nicht jedermanns Sache.

    Beim Lesen in diesem Lesebuch stellt sich nach und nach der Eindruck eines nicht nur poetologischen Gefälles ein, das einerseits erhellend, andererseits dann doch irgendwie unangenehm ist. Peter Weiss‘ Auschwitz-Besuch und Nelly Sachs‘ Gedicht "Mein Ort" bilden zwangsläufig den moralischen Maßstab für alles andere in diesem "Atlas". Hans Werner Richter mit seiner "Bansiner Topografie", der Anpassungsgeschichte eines Ostseebades, Wolfgang Koeppen mit seinem einen, seitenlangen Satz über den Untergang der Welt des Romanischen Cafés, Erich Frieds Erinnerung an die grüne Wohnzimmergarnitur seiner deportierten Großmutter – diese Erzählungen sind auf der "richtigen", der "sicheren" Seite dieser Richtschnur des verantwortlichen Gedenkens.

    Aber was ist mit Hubert Fichtes und Wolf Biermanns Gedichten übers Heranwachsen in Lokstedt und Eimsbüttel, übers Knutschen aufm Hugenottenfriedhof? Mit Günter Herburgers lyrisch-soßensatter Stuttgart-Beschimpfung? Mit Walter Jens‘ zauberberglerischem Sanatoriumsgemurmel? Mit Marie Luise Kaschnitz‘ Würdigung kindlich-frechen "Rennens und Trödelns" und Günter Bruno Fuchs‘ Eckkneipen-Fantasie in Berlin? Mit all den Geschichten, in denen nicht das unüberbietbar große Verbrechen im Mittelpunkt steht, sondern die kleinen, privater dimensionierten Freudenabstürze und Leidensaufschwünge, die sich mit der Erinnerung an einen Ort verbinden? Dürfen die das?

    Unversehens kommt man, Verbindungslinien zwischen den Ortsmarken in diesem "Atlas" ziehend, schließlich bei einer zentralen Frage der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert an. Die Tatsache, dass "nach Auschwitz" seit nunmehr sechzig Jahren Gedichte geschrieben werden, sagt ja über die Berechtigung der Frage, ob das denn angemessen sei, nichts aus. Über ihre abnehmende Dringlichkeit jedoch einiges. Manchmal ist das Gras, das über eine Frage wächst, auch schon eine Art von Antwort. Aber wie die Anknüpfung über die Zeiten hinweg an das, was deutsches Geistergespräch einmal war, illusorisch scheint, ist auch die bruchlose Begegnung mit einem Ort, und sei es der unbeschwerten oder schuldlosen Kindheitserlebens, den im "Atlas" versammelten Schriftstellergenerationen und denen, die danach kommen, eigentlich unmöglich. Wo auch immer.

    Es ist ja nicht so, dass nur das Gesicht der Städte von offenen und subkutanen Vernarbungen vergangener Zeiten gezeichnet wäre. Und doch, bei aller Verengung des Blicks auf deutsche Gegenden, deren sich all die Gruppe-47-Größen und die der werdenden DDR-Literatur und sogar, wir erinnern uns, der Wahl-Stockholmer Peter Weiss in nahezu neobiedermeierlicher Selbstbescheidung befleißigen, ist dieser Blick aufs städtische Leben gerichtet.
    Freilich waren es die Städte, wo die SA marschierte, wo die auf einmal als Juden verfolgten Nachbarn zusammengetrieben wurden, wo die Bomben einschlugen und die vertraute Welt in Schutt und Asche legten. Bis heute gelten die Städte als die Orte, wo demonstriert wird, wo Lebensstil ausprobiert wird, wo gesellschaftliche Umbrüche deutlich sichtbar werden.

    Aber auch die Gegenden dazwischen, die Landschaften am Rand der großen Zentren und außerhalb, die Gefilde, die zunächst nichts Bestimmtes zu bedeuten haben, wo nicht jeder Stein spricht und jede Mauer ein Einschussloch aufweist, sind dem Vergehen der Zeit unterworfen. Diese Frage allerdings hat die schreibenden Frauen und Männer, die bei Wagenbachs "Atlas" mitmachten, nur dann interessiert, wenn diese Landschaften schlechterdings unerreichbar geworden waren, so wie Siegfried Lenz sein Kinderland Masuren, wo der selbst gebastelte Eissegler zweier Buben erst mächtig Fahrt aufnimmt und schließlich untergeht wie kurz darauf das Reich, irgendwo in der Erwachsenenwelt.
    Noch der sehr junge Delius stand damals allein mit seiner Aufforderung, sich gelegentlich um Orte wie Butzbach in Oberhessen zu kümmern:

    Freunde, hier schick ich euch hin,/wenns euch zu wohl wird in Kreuzberg,/bei Höllerer, Bense oder in Schwabing,/ hier fangt an mit Beschreibung, hier spart/ihr Adjektive und Fragezeichen, hier/ stimmen Klischees...

    Die Einladung gilt. Was passiert mit den Gegenden in Deutschland, wo die die Landwirtschaft aufgebenden Bauern Verbuschung und Verwaldung hinterlassen und die sterbenden Industrien ihre eigenen Brachen? Was passiert mit den Dörfern, aus denen Schlafstädte und uniforme Vororte werden? Was schmerzt, was stört, was fehlt uns da, mit der Zeit? "Der Deutsche in der Landschaft" - Borchardts ziemlich gesuchter Titel könnte, vierzig Jahre nach dem "Atlas" aus dem Hause Wagenbach, eine ganz neue Bedeutung bekommen.

    Klaus Wagenbach
    Atlas. Deutsche Autoren über ihren Ort
    Wagenbach Verlag, 320 S., EUR 18,-