Die Linke spaltet sich. Historisch gesehen, macht sie das gern und oft, weil die anderen entweder zu links, nicht links genug oder falsch links sind. Stärker ist die Linke deshalb noch nie geworden. Aus dieser Perspektive passiert gerade nichts Besonderes.
Auch aus einem zweiten Blickwinkel erleben wir derzeit nur, was in einer Demokratie eigentlich selbstverständlich ist. Etwas, was ihre Stärke gegenüber autokratischen oder diktatorischen Systemen ausmacht: Sie ist flexibel, so gebaut, dass sie in einem relativ weit gesteckten Rahmen neue Bedürfnisse aus der Wählerschaft aufnehmen und integrieren kann. Und wenn diese Bedürfnisse in der vorliegenden Parteienlandschaft keine Entsprechung finden, ist es nur logisch, dass neue Parteien entstehen.
Eine neue Partei ist keine Katastrophe
Das war bei den Grünen so. Das war so, als aus der ostdeutschen PDS die gesamtdeutsche Linke wurde. Und das war bei der AfD nicht anders. Hätte die sich zu einer konservativen, auch national-konservativen Partei rechts der Union gemausert, gälte sie heute als eine geradezu folgerichtige Ergänzung des Parteiensystems. Das Problem bei ihr: Sie mauserte sich stattdessen zu einer in Teilen rechtsextremen Partei. Dort liegt die Gefahr.
Im Prinzip ist eine neue Partei aber keine Katastrophe für die Demokratie, sondern eher Ausdruck von deren Lebendigkeit. Nur wenn man die besondere Stabilität des bundesdeutschen Parteiensystems hernimmt – nur drei relevante Neuzugänge in mehr als 70 Jahren –, wird die Bedeutung der heraufziehenden Spaltung der Linken samt möglicher Neugründung einer Wagenknecht-Partei deutlich.
Ramelow ist der einzig verbliebene Linke mit Zugkraft
Sahra Wagenknecht, die ehemalige Fraktionschefin im Bundestag, ist die derzeit populärste Linke. Zielstrebig arbeitet sie sich an den Lifestyle-Linken ab. So nennt sie die Realos in der Partei, und alle, die sich darüber hinaus ins linksliberale Lager einsortieren. Ob das Wagenknecht-Lager aber wirklich davonzieht, wie groß es eigentlich ist und ob es sich in einer Wagenknecht-Partei wiederfände? Das alles sind noch offene Fragen.
Wagenknecht kann Menschen rhetorisch fesseln, ist eine hervorragende Analytikerin – aber Organisation, die mag sie überhaupt nicht. Daraus macht sie auch keinen Hehl. Ob sie sich dennoch eine Parteigründung zutraut – es ist noch nicht ausgemacht. Seit Monaten laviert sie sich an einer Antwort vorbei. Fakt ist: Mit drei Landtagswahlen im Osten und der Europawahl wäre das kommende Jahr wie geschaffen für das Projekt.
Für die Demokratie in diesem Land wäre die Wagenknecht-Partei keine Katastrophe, jedenfalls nicht zwangsläufig; für die heutige Partei „Die Linke“ schon. Außer dem Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow hat sie niemanden mehr zu bieten, der als Persönlichkeit überzeugt und ausreichend Zugkraft haben könnte, um die Linke noch einmal in den Bundestag zu manövrieren.
Linkes Kernthema: Wer besitzt was?
Programmatisch mag die Parteispitze der Linken näher am Zeitgeist sein als das Wagenknecht-Lager. Authentischer ist sie damit nicht. Wer nach etwas Unverwechselbarem sucht, der wäre in einer Wagenknecht-Partei besser aufgehoben. Dort ginge es noch immer im Kern um die ökonomischen Grundlagen und demokratischen Voraussetzungen sozialer Gerechtigkeit. Also schlicht gesprochen darum, wer was besitzt. Und wer was in dieser Gesellschaft zu sagen hat, welchen Einfluss er nehmen kann auf den Gang der Dinge.
Für die einen ist das altmodisch. Für die anderen das wirklich Wichtige. Für Wagenknecht ist es nach wie vor Kern aller Politik. Umfragen lassen vermuten, dass sie damit zumindest im Osten ein ähnlich großes Wählerpotenzial erreichen könnte wie die AfD. Und oft ist der Osten in solchen Fragen nur etwas früher dran und skrupelloser als der Westen.
Unklar, wohin sich Wagenknecht entwickelt
Ein nicht unerheblicher Teil der AfD-Unterstützer kann auch mit einer Wagenknecht-Partei gut leben. Die Aussagen zur Zukunft der EU und zu Russlands Krieg in der Ukraine ähneln sich, ohne deckungsgleich zu sein. Nun stünde die Frage: Zieht eine Wagenknecht-Partei Wähler von der AfD ab? Gut möglich. Dann würde man Sahra Wagenknecht irgendwann wahrscheinlich ein Dankesschreiben schicken.
Oder aber radikalisiert sich diese Ur-Linke ebenfalls – und hat damit Erfolg. Dann wäre Deutschlands politische Ordnung ernsthaft herausgefordert. Die Anzahl der organisierten Gegner dieser freiheitlichen Demokratie wäre gefährlich hoch.