Nun kann man, und dies werden die Gegner von Günter Grass nicht versäumen, in der Empörung des Schriftstellers eine gewisse politische Unlogik entdecken. Dabei muß man ja nicht so weit gehen wie CDU-Generalsekretär Hintze, der Grass umgehend des "intellektuellen Tiefststandes" bezichtigte. Aber wie soll sich die Bundesrepublik zu ihrem Nato-Bündnispartner stellen? Soll die Türkei, deren Territorium zu Zeiten des Kalten Kriegs ein nicht unwichtiges Schutzschild des Westens war, mit einem paktinternen Embargo belegt werden? Soll man das Land, nach Yasar Kemals Worten ohnehin nur eine "Spielzeugdemokratie", die "das Gesicht der Demokratie noch nie gesehen" habe, behandeln wie eine Bananenrepublik? Gerade solche Bevormundung werden die Türken, die ja immerhin in freien Wahlen ihre Regierung bestellen, sich verbitten - und mit Recht. Der Demokrat und Republikaner Grass kann dies schlecht ignorieren.
Andererseits herrscht eine Art Bürgerkrieg in der Türkei, und es steht den europäischen Regierungen wohl an, auf dessen Beendigung zu drängen. Nur wären die engagierten Sätze unseres repräsentativsten Schriftstellers in dieser Sache noch überzeugender gewesen, hätte er den Terror der Kurden, beziehungsweise ihrer politischen und militärischen Führung nicht gänzlich unerwähnt gelassen.
Doch wie auch immer die Diskussion um die Frankfurter Rede von Günter Grass noch im einzelnen verlaufen mag, die Tatsache, daß die Diskussion stattfindet, beweist den Impakt dieser Rede, und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat gute Gründe, diesen Umstand in einer eilig nachgeschobenen Pressemeldung zu begrüßen. Er hatte sich mutig für einen politisch heiklen Preisträger entschieden und riskiert, daß während Grass' Rede ein Teil des Publikums begeistert klatschen und ein anderer stocksteif dasitzen würde. Denn eben darin lag die Größe dieser Rede: daß sie die zwischen der Türkei und Deutschland liegenden Probleme rhetorisch in Fluß brachte.
Im Anschluß an die Preisverleihung zitierte Yasar Kemal ein Wort des aus Anatolien stammenden Philosophen Thales, das lautet: "Die Menschen, die Lieder machen, können mehr bewirken als die Menschen, die Gesetze machen." - Ein schönes Wort an die Politiker!