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Kommentar zum angekündigten Streik
Verdi und EVG legen zu Recht das Land lahm

Die Forderungen der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi nach 10,5 und der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) nach 12 Prozent mehr Lohn sind berechtigt. Ihre Verwirklichung würde einen Ausgleich für den erlittenen Kaufkraftverlust bedeuten.

Ein Kommentar von Sebastian Engelbrecht | 23.03.2023
Züge der Deutschen Bahn stehen auf einem Abstellgleis am Hauptbahnhof in Frankfurt.
Wenn nichts mehr fährt: Vor der nächsten Tarifrunde im öffentlichen Dienst könnte Deutschland von flächendeckenden Streiks betroffen sein. (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
„Wir zahlen nicht für Eure Krise“ – unter diesem Motto rufen die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG und der Berliner Mieterverein für den kommenden Samstag (25.3.2023) zu einer Demonstration in Berlin auf. Das Motto ist auf den ersten Blick eine Provokation, denn die Krise betrifft alle: Politik, Unternehmen und Arbeitnehmer. Auf den zweiten Blick aber erscheint sie berechtigt, vor allem im Blick auf die Bundesregierung. Denn die Krise – sprich: der Kaufkraftverlust der Arbeitnehmer – entstanden durch die Inflation von fast zehn Prozent im vergangenen Jahr, ist vor allem das Produkt einer verfehlten Energiepolitik.

Berechtigter Ausgleich für Kaufkraftverlust

Verdi fordert 10,5 Prozent mehr Lohn, die EVG zwölf Prozent, jeweils bei Laufzeiten von einem Jahr. Die Forderungen sind absolut berechtigt. Ihre Verwirklichung würde einen Ausgleich für den erlittenen Kaufkraftverlust bedeuten. Bei der EVG liegt die Forderung deutlich über der Inflationsrate. Auch das ist berechtigt. Denn bei der letzten Tarifrunde im Jahr 2020 gaben sich die Eisenbahner von der EVG mit einem Zuwachs von 1,5 Prozent zufrieden. Die Bahn fuhr damals wegen der Corona-Krise besonders hohe Verluste ein – und die Gewerkschaft zeigte sich außerordentlich kooperativ.
Das weiß auch der Vorstand der Deutschen Bahn. Der Verhandlungsführer der DB, Martin Seiler, hat das Einlenken der EVG in bester Erinnerung und weiß, dass sich die Bahn beim bevorstehenden Abschluss großzügiger zeigen muss. Das Argument, man befinde sich in einer Krise, lässt sich nun mal nicht in jeder Tarifrunde heranziehen.

Die Arbeitnehmer verdienen diesen Inflationsausgleich

Aus gutem Grund fühlen sich beide Gewerkschaften von den vorliegenden Angeboten der Arbeitgeber nicht ernst genommen. Diese bieten jeweils fünf Prozent mehr in zwei Schritten und Einmalzahlungen von insgesamt 2500 Euro. Für die Arbeitnehmer wäre das insgesamt ein Minusgeschäft. Denn die Einmalzahlungen bringen den inflationsgeplagten Arbeitnehmern nur kurzfristig Hilfe. Sie verpuffen auf lange Sicht, weil sie sich nicht in den Gehaltstabellen niederschlagen – während die Inflationspreise überall weiter zu bezahlen sind.
Hinzu kommt, dass die Staatskassen von der Inflation reichlich profitieren. Denn die Inflation erhöht auch die Steuereinnahmen deutlich. Deshalb ist die Bezahlung hoher Tarifabschlüsse für Eisenbahner, Mitarbeiterinnen der öffentlichen Nahverkehrsunternehmen und anderer Arbeitnehmer im Verkehrssektor keine Utopie. Sie ist machbar. Die Arbeitnehmer verdienen diesen nachhaltigen Inflationsausgleich. Allen, die am Montag geneigt sind, wegen des Streiks zu fluchen, sei also geraten, sich in die Streikenden hineinzuversetzen. Was sie fordern, ist nicht überzogen, sondern ihr gutes Recht.