Auf den ersten Blick könnte man meinen, der Mord an Walter Lübcke hätte in diesem Land nicht alle aufgeschreckt und aufgeweckt. Tagtäglich - gerade jetzt wieder im Europawahlkampf - werden Politikerinnen und Politiker auf der Straße, in Sälen und im Internet verbal und körperlich brutal attackiert und verletzt. Daran erinnerte heute bei der Gedenkfeier für Walter Lübcke in Kassel zu Recht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Wie vor dem Mord in der Nacht vom 1. auf den 2 Juni 2019 wird weiterhin im Internet gehetzt. Die Politik schafft es bisher nicht, die Plattformbetreiber dafür in Haftung zu nehmen. Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Straftaten lag im vergangenen Jahr bei fast 29.000. Das sind beinahe 5.000 mehr als im Jahr zuvor. Hat die Gesellschaft also tatsächlich nichts gelernt nach dem Terrormord am CDU-Regierungspräsidenten von Kassel?
LKA bekämpft Rechtsextremismus
So paradox es klingt: Gerade die deutlich erhöhte Zahl der erfassten rechtsextremistischen Taten zeigt jedoch auch, dass sich etwas zum Positiven verändert hat. Die Behörden etwa in Hessen beobachten heute systematisch, was sich in gewaltbereiten Zirkeln im Internet oder in Gasthäusern tut. Das Hessische Landeskriminalamt in Wiesbaden hat eine eigene Abteilung zur Bekämpfung des Rechtsextremismus geschaffen, die es vor dem Mord an Walter Lübcke nicht gab.
Der Landesverfassungsschutz hat 100 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die hessische Spezialstaatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Internetkriminalität in Frankfurt am Main ist deutlich ausgebaut worden. Den wachsenden Verfolgungsdruck auf die Szene dokumentiert auch das Internetportal „Hessen gegen Hetze“, das in der Folge des Lübcke-Mordes vor fünf Jahren eingerichtet wurde. Allein im vergangenen Jahr meldeten Hessinnen und Hessen dort mehr als 20.000 Hasskommentare im Netz. In rund einem Zehntel dieser Fälle wird die Justiz aktiv.
Schutz von Politikern verbessert
Gegen Rechtsextremismus hätte schon viel früher entschlossen gehandelt werden müssen. Der Bundespräsident wies heute auf die „lange Spur“ rechter Gewalt hin, die sich durch die Geschichte der Bundesrepublik zieht: vom Münchener Oktoberfest-Attentat 1980 über Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Solingen oder Mölln bis zur NSU-Mordserie zwischen 2000 und 2006. Angehörige des damals in Kassel vom NSU ermordeten Internetcafé-Betreibers Halit Yozgat nahmen heute an der Gedenkfeier für Walter Lübcke teil. Vor 20 Jahren aber waren die hessischen Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind.
Inzwischen aber zeigt der Kampf gegen rechte Gewalt Erfolge: Allein die Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität – kurz ZIT – der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main hat gemeinsam mit der Polizei in den vergangenen Jahren rund 7.500 Hasskommentare zum Mord an Walter Lübcke in den sozialen Netzwerken untersucht. In Hessen folgten daraus 250 Ermittlungsverfahren, 85 Tatverdächtige konnten identifiziert werden, zwölf Gerichtsprozesse fanden inzwischen statt, Urteile sind gesprochen worden.
Auch der Schutz bedrohter Politiker ist besser geworden als zu Zeiten des Mordes an Walter Lübcke. Die hessische Polizei schrieb etwa vor wenigen Wochen 300 Bürgermeister und Bürgermeisterinnen des Landes an, deren Namen sie auf Listen der „Reichsbürgergruppe Reuß“ gefunden hatte. Diese Gruppe steht aktuell wegen Umsturzplänen in Deutschland vor Gericht. Ihre Pläne wurden durchkreuzt.
Social Media verdient mit Hass Geld
Ein zentrales Manko bleibt: Die Ermittlerinnen und Ermittler sind gerade beim Kampf gegen Hass und Hetze im Internet auf die Kooperation der Plattformbetreiber angewiesen, um Hasskommentare löschen zu können. Doch die verdienen mit empörten Kommentaren Geld. Die Politik greift hier bis heute nicht entschlossen genug ein.
Walter Lübcke fehlt. Das machte Frank Walter Steinmeier heute in seiner Rede in Kassel deutlich. „Wir bräuchten ihn jetzt“, sagte das Staatsoberhaupt angesichts eines Rechtsextremismus, der sogar, wie zuletzt auf Sylt, „partytauglich“ werde. Walter Lübcke wird vor allem in Nordhessen schmerzlich vermisst. Doch sein politisches Vermächtnis wird dort nicht vergessen. Er folgte dem Motto: „Man muss für Werte eintreten“.