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Kommentar zur Chinapolitik
Baerbocks Position vereint Moral und Realpolitik

Der Schlingerkurs in der deutschen und europäischen Chinapolitik sei ein strategisches Debakel, das nur Peking nütze, meint Jörg Lau. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock habe dagegen gezeigt, wie man gegenüber Chinas Regierung auftreten müsse.

Ein Kommentar von Jörg Lau ("Die Zeit") |
Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) wartet im Staatsgästehaus Diaoyutai während einer gemeinsame Pressekonferenz mit dem chinesischen Außenminister Gang.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock habe gezeigt, dass es nicht schwer ist, mit eindeutiger Haltung gegenüber China aufzutreten, meint Jörg Lau von der Wochenzeitung "Die Zeit" (picture alliance / dpa / Soeren Stache)
Als die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) in dieser Woche ihre lange erwartete China-Reise antrat, waren die Erwartungen hoch. Sie solle doch bitte, forderten die einen, den Fauxpas des französischen Präsidenten korrigieren, der sich in Peking allzu anschmiegsam geäußert hatte.
Also dann, Frau Baerbock: Zeigen Sie klare Kante! Kritisieren Sie Menschenrechtsverletzungen, fordern Sie eine Strategie für mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit, weisen Sie Chinas Drohungen gegenüber Taiwan zurück. Und fragen Sie mal, ob Peking als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine mehr tun könnte!

Macron rückt die EU von den USA weg

Das alles nachdem das Interview des französischen Präsidenten auf seinem Rückflug aus Peking Verwirrung gestiftet hatte. Emmanuel Macron hatte gesagt, Europa dürfe nicht zum „Vasallen“ der USA werden. Europa solle sich nicht in Konflikte hineinziehen lassen, die es nichts angehen. Den Streit um Taiwans Demokratie und Unabhängigkeit stellte er als eine Art amerikanische Obsession dar, auf die China nur überreagiere. Die EU solle lieber für ihre eigene „strategische Autonomie“ kämpfen.
Macron hatte die EU von den USA weggerückt - just in einem Moment, in dem die Amerikaner in Europa die Hauptlast für die Unterstützung der Ukraine tragen. Könnte die deutsche Außenministerin also bitte den französischen Präsidenten korrigieren? Als sei das noch nicht schwierig genug, saßen ihr dabei Partner aus der eigenen Regierungskoalition im Nacken, die das genaue Gegenteil wollen.

Uneinigkeit in der Chinapolitik nützt nur Peking

SPD-Fraktionschef Mützenich gibt nämlich Macron recht. Deutschland dürfe nicht "Anhängsel" der USA werden. Mützenich findet wie die Pekinger Regierung, Baerbock habe sich „undifferenziert“ zu China geäußert. Also: zu kritisch.
Ins gleiche Horn stößt der konservative Seeheimer-Kreis der SPD. Während Baerbocks Reise stach man ein Thesenpapier an die Presse durch, das vor der „eindimensionalen“ Chinapolitik der Grünen warnte. Gemeint war auch hier: Bitte nicht zu konfrontativ!
Diese zunehmende Verwirrung in der deutschen und in der europäischen Chinapolitik ist ein strategisches Debakel. Sie nützt den Mächtigen in Peking, die nichts lieber tun, als Europäer und Amerikaner gegeneinander auszuspielen – oder auch gern die Teile einer zerstrittenen deutschen Regierungskoalition.

Keine Konsequenzen aus gescheiterter Russlandpolitik

Die Konfusion zeigt, wie schwer es vielen immer noch fällt, die Konsequenzen aus dem Scheitern der Russlandpolitik zu ziehen. Dabei liegen die drei wichtigsten Erkenntnisse offen zutage:
Erstens: Deutschland und Europa sind ohne die USA nicht verteidigungsfähig. Das zeigt sich jeden Tag in der Ukraine. Die „strategische Autonomie“ Europas, von der Macron spricht, ist eine Illusion, in Osteuropa wie im Indopazifik.
Zweitens: Das Risiko einseitiger, wirtschaftlicher Abhängigkeit von Diktaturen muss reduziert werden. Es ist im Fall Chinas noch größer als gegenüber Russland. Dabei geht es nicht um die Kappung aller Verbindungen, sondern um einzelne, strategisch wichtige Bereiche, in denen Europa erpressbar wäre. De-Risking heißt das auf Neudeutsch, Risikostreuung.
Drittens: Der Konflikt um Taiwan geht uns sehr wohl an. 90 Prozent aller hochwertigen Mikrochips kommen von der Insel, die Hälfte des Welthandels passiert die Meerenge von Taiwan. Ein Krieg hier hätte schlimmere Folgen als Finanz- und Coronakrise zusammen.

Baerbock zeigt, dass eine eindeutige Haltung nicht schwer ist

Einem demokratischen, de facto unabhängigen Land zur Seite zu stehen, entspricht unseren Werten wie unseren Interessen. Das ist die zentrale Lektion aus dem Krieg in der Ukraine. Moral und Realpolitik widersprechen sich oft, aber hier sind sie eins.
Annalena Baerbock hat diese Position in Peking klar und mutig vertreten, trotz Drucks von innen wie von außen. So schwer ist eine eindeutige Haltung gar nicht. Ein Anfang ist gemacht.