Kommentar
Zeit für einen umfassenderen Begriff von Solidarität mit Israel

Es geht ein Riss durch Deutschland. Die von der Politik immer wieder betonte Israel-Solidarität und die Stimmung in großen Teilen der Bevölkerung passen nicht zusammen. Es ist an der Zeit, ausführlicher darüber zu sprechen.

Von Benjamin Hammer |
Die Flaggen vor dem Roten Rathaus in Berlin hängen am Jahrestag des 7. Oktober 2023 auf Halbmast.
Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hängt vor zahlreichen Rathäusern in Deutschland eine israelische Flagge. (picture alliance / dpa / Katharina Kausche)
Seit einem Jahr weht vor zahlreichen Rathäusern in Deutschland eine israelische Flagge. Am Jahrestag der Terrorangriffe von Hamas und Islamischem Dschihad wurde außerdem das Brandenburger Tor in den Farben der Flagge angestrahlt. Vor dem Bundeskanzleramt wurde eine große gelbe Schleife angebracht, um an die israelischen Geiseln zu erinnern, die noch immer im Gazastreifen gefangen gehalten werden.
Die Botschaft, die von Deutschlands Politikerinnen und Politikern ausgeht, lautet: Deutschland steht eng an der Seite Israels, weiterhin. Aber auf den Straßen in Deutschland ist von so viel Solidarität wenig zu sehen. Die meisten pro-israelischen Kundgebungen sind kläglich besucht. Während auf pro-palästinensischen Demos oft Tausende durch die Straßen ziehen, sind es bei Pro-Israel-Veranstaltungen eher Hunderte.

Riss zwischen Politik und Bevölkerung

Es geht ein Riss durch Deutschland. Die von der Politik immer wieder betonte Israel-Solidarität und die Stimmung in großen Teilen der Bevölkerung passen nicht zusammen. Es ist an der Zeit, ausführlicher darüber zu sprechen. Ja, der Antisemitismus in Deutschland war nie verschwunden und hat in den vergangenen Monaten auch noch zugenommen. Mehr noch: Ein Teil der Bevölkerung empfindet einen tiefsitzenden Hass auf Israel. Für diese Menschen ist Israel immer der Täter und kann kein Opfer sein.
Doch die mangelnde Solidarität auf solch extreme Fälle zu reduzieren, wäre verkürzt. Die aktuellen Bilder aus dem Gazastreifen prägen den Blick eines großen Teils der Bevölkerung. Laut einer ZDF-Umfrage waren bereits Ende März knapp 70 Prozent der Befragten in Deutschland der Meinung, dass Israels Kriegsführung nicht gerechtfertigt sei. Vom Gazastreifen ist in großen Teilen nur noch Staub und Geröll übrig. Israel steht im Verdacht, Kriegsverbrechen zu begehen. In den meisten Statements von Politikerinnen und Politikern in Deutschland ist davon aber kaum etwas oder nichts zu hören.

Solidarität heißt auch, Kritik offen anzusprechen

Dabei könnte Israel-Solidarität auch bedeuten, Bedenken, Mahnungen und Kritik offen anzusprechen. Es ist möglich und solidarisch, um die israelischen Opfer des 7. Oktobers zu trauern und gleichzeitig Israels Kriegsführung im Gazastreifen zu verurteilen. Denn Sicherheit für Israel kann es langfristig nur geben, wenn auch seine Nachbarn in Sicherheit leben können.
Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner hat in den vergangenen zwölf Monaten in zahlreichen Posts auf dem Portal X seine Solidarität mit Israel recht eindimensional zum Ausdruck gebracht. Das Wort "Palästinenser" taucht in keinem einzigen Beitrag von ihm auf. Dabei ist er auch der Bürgermeister zehntausender Berlinerinnen und Berliner mit palästinensischen Wurzeln. Politiker wie Wegner hätten am 7. Oktober dieses Jahres deutlich machen können, dass sie auch ihren Schmerz sehen.

Simple Formeln helfen nicht

Der von großen Teilen der Politik und von Verbänden wie der Deutsch-Israelischen Gesellschaft vorgelebte Begriff von Israel-Solidarität ist zu schmal. Die völkerrechtswidrige Besatzung des Westjordanlandes wird häufig verdrängt oder sogar hingenommen. Der Einfluss der rechtsextremen israelischen Minister auf das Land wird kleingeredet. Simple Formeln wie "Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten" oder "Israel hat die moralischste Armee der Welt" sind dabei bequem und werden nicht hinterfragt.
Doch je simpler und undifferenzierter Israel-Solidarität ist, desto weniger Menschen können sich hinter ihr versammeln, ob im Netz oder auf den Straßen. Es braucht deshalb ein breiteres Verständnis von Israel-Solidarität, das bislang allzu formelhafte Politiker-Statements ablösen muss.

Das Existenzrecht beider Seiten vertreten

Etwa so: Deutschland setzt sich unmissverständlich für Israels Existenzrecht ein und zwar in seinen völkerrechtlich anerkannten Grenzen. Israel hat das Recht, sich zu verteidigen. Waffenlieferungen müssen jedoch streng an die Frage gebunden sein, ob Israel die Verhältnismäßigkeit wahrt. Und: Die Politik der aktuellen israelischen Regierung schwächt Israels Sicherheit und stärkt sie nicht. Immerhin die Bundesaußenministerin fand zuletzt offenere Worte als viele andere Politikerinnen und Politiker.
Israel-Solidarität kann übrigens auch bedeuten, vor deutschen Rathäusern neben einer israelischen auch die palästinensische Flagge zu hissen. Das wäre ein Zeichen an Israels Regierung, die viel unternimmt, um einen Staat Palästina endgültig unmöglich zu machen. Die beiden Flaggen nebeneinander wären aber auch eine Ansage an jene pro-palästinensischen Demonstranten, die Israels Existenzrecht ablehnen.
Wir sehen auch das Leid der Palästinenser, wäre die Botschaft in Deutschland. Die israelische Flagge aber bleibt, gewöhnt euch dran! Wir brauchen dringend ein umfassendes Verständnis von Solidarität, das viele Menschen auf die Straße bringt, gemeinsam.
Benjamin Hammer
Benjamin Hammer wurde 1983 in Köln geboren. Er studierte Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft in Köln und Dublin. Während des Studiums plante und begleitete er Studienreisen nach Israel und in die palästinensischen Gebiete. Benjamin Hammer ist Absolvent der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft. Anschließend volontierte er bei der Deutschen Welle. Von 2011 bis 2017 war Benjamin Hammer Redakteur in der Wirtschaftsredaktion des Deutschlandfunks. Es folgten fünf Jahre als Korrespondent für die ARD und Deutschlandradio in Tel Aviv. Seit September 2022 arbeitet Hammer wieder in der Abteilung Wirtschaft und Gesellschaft des Deutschlandfunks.