Sandra Schulz: Vor gut neun Jahren kam alles ins Rollen. Ein Brief des Rektors des katholischen Canisius-Kollegs wurde da bekannt. Pater Klaus Mertes wandte sich an Hunderte ehemalige Schüler. Die Rede war von systematischem sexuellen Missbrauch in den 70er- und 80er-Jahren. Ähnliche Enthüllungen über andere konfessionelle Schulen folgten, aber das Thema blieb kein Alleinstellungsmerkmal kirchlicher Institutionen. Für Erschütterung sorgten auch die Schilderungen, wonach an der bekannten Reformschule, an der Odenwald-Schule sexueller Missbrauch System hatte.
Welche Dimension das Thema sexueller Kindesmissbrauch hat, nicht nur in Schulen, das zeichnete sich auch danach erst langsam ab. Die Bundesregierung berief einen unabhängigen Beauftragten und eine unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs nahm Anfang 2016 die inhaltliche Arbeit auf. Heute legt diese Kommission ihren Bericht vor und wir können darüber jetzt schon sprechen mit ihrer Vorsitzenden. Am Telefon ist Professor Sabine Andresen, Erziehungswissenschaftlerin an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Schönen guten Morgen!
Sabine Andresen: Guten Morgen, Frau Schulz.
"1.700 Menschen haben sich gemeldet"
Schulz: Wie bitter war und ist Ihre Arbeit?
Andresen: Unsere Arbeit besteht im Wesentlichen daraus, dass wir mit betroffenen Menschen sprechen, und wir sind sehr dankbar dafür, dass sich fast 1700 Menschen in den ersten drei Jahren bei uns gemeldet haben, um ihre Geschichte zu berichten, denn das ist ein ganz wesentliches Anliegen der Aufarbeitung und der Aufarbeitungskommission, dass die Geschichten von Betroffenen gehört werden, weil das eine zentrale Erfahrung ist, dass sie nach ihrer Gewalt, nach ihrem Gewalterleben kein Gehör gefunden haben, dass ihnen häufig nicht geholfen wurde und dass sie auch als Erwachsene – Sie haben die kirchlichen Institutionen angesprochen, Sie haben die Odenwald-Schule angesprochen -, dass sie auch als erwachsene Betroffene, wenn sie gesprochen haben, wenn sie auch an die Institutionen herangetreten sind, häufig zurückgewiesen wurden, negative Erfahrungen gemacht haben, erleben mussten, dass eine Einrichtung nicht aufarbeiten wollte. Darum ist es ganz wichtig, dass die Kommission den Schwerpunkt darauf legt, Betroffene und ihre Geschichten zur Wirkung kommen zu lassen, dass sie auch in der Gesellschaft Gehör finden.
Schulz: Ist das die wichtigste Aussage Ihres Berichts, oder würden Sie inhaltlich noch andere Schwerpunkte sehen?
Andresen: Der Bericht ist sehr umfangreich. Er besteht auch aus zwei Bänden. Der zweite Band versammelt Geschichten, ganz unterschiedliche Geschichten von Betroffenen, und im ersten Band dokumentieren wir Zahlen und wir legen unsere Analysen der Anhörungen mit Betroffenen vor. Eine ganz wichtige Botschaft, die sich durchzieht durch unseren Aufarbeitungsprozess, oder ein Muster – so will ich es einmal nennen -, das in sehr vielen Fällen Betroffene, die in der Familie Gewalt erlebt haben, aber auch Betroffene, die in Institutionen sexuellen Kindesmissbrauch erlebt haben: Sie sind diejenigen, die aufdecken, und sie sind häufig konfrontiert mit dem Schweigen der anderen, so haben wir es genannt, mit denjenigen, die vielleicht etwas mitbekommen haben, aber nicht eingegriffen haben, oder aber Institutionen, denen es immer noch sehr schwerfällt, darüber zu sprechen, dass in ihrer Schule, in ihrer Heimeinrichtung auch sexueller Kindesmissbrauch stattgefunden hat. Das ist ein Muster.
56 Prozent erlebten sexuelle Gewalt in der Familie
Schulz: Von welchen Institutionen sprechen Sie da? Denken wir da an die Katholische Kirche?
Andresen: Ja. Wir haben Betroffene, die sexuelle Gewalt in der Katholischen Kirche erlebt haben, in Heimen, auch in der Evangelischen Kirche. Es haben sich bei uns Personen gemeldet, die in unterschiedlichen Schulen sexuellen Missbrauch erlebt haben. Vielleicht, um das an Zahlen deutlich zu machen: 56 Prozent derjenigen, die sich gemeldet haben bei uns, haben sexuelle Gewalt in der Familie erlebt. Von denjenigen, die in Institutionen Gewalt erlebt haben, waren 57 Personen, die das in Schulen erlebt haben, auch 24, die in Kliniken im Arzt- und Therapiekontext einen Kindesmissbrauch erlebt haben. Wir identifizieren über solche Zahlen auch zum einen die Familie als einen nach wie vor sehr bedrängenden Tatkontext für Kinder, aber wir können auch sehen, dass wir noch viel zu wenig wissen über sexuelle Gewalt in Kliniken, in Arzt- und Therapiekontexten. Da hat auch bislang die Kommission noch nicht intensiv arbeiten können, weil wir in drei Jahren, die wir jetzt tätig waren, einige wichtige Schwerpunkte gesetzt haben. Das heißt gesellschaftliche Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie, ein ganz großes, ein ganz wichtiges Thema.
Schulz: Und was heißt das?
Andresen: Aus der Perspektive von betroffenen Menschen ist sehr eindrucksvoll, wie sie schildern, wie sie als Kind versucht haben zu verstehen, wenn ein Angehöriger, der Vater, der Großvater – das sind diejenigen, die am häufigsten genannt wurden von den Betroffenen, mit denen wir gesprochen haben -, wenn sie wirklich einen fundamentalen Vertrauensverlust erlitten haben, aber dennoch ja weiterhin in der Familie auch mit dem Täter zusammengelebt haben. Als Kind kann man sich selbständig kaum lösen von der Familie. Und auch als erwachsene Person sind Betroffene häufig immer noch in der Auseinandersetzung mit der Familie und viele Schildern, dass sie, um dem Täter nicht weiter zu begegnen, eigentlich mit der gesamten Familie brechen mussten. Da wird sehr genau beschrieben und wird noch mal sehr deutlich, welche enorme Bedeutung die Familie für Menschen hat und was für ein Verlust, was für eine existenzielle Dauerbelastung und Dauerkrise es ist, wenn ein Kind in der Familie sexuellen Missbrauch erlebt, weil es im Grunde häufig keinen Schutz gab. Wir blicken ja sehr weit zurück auch in die Vergangenheit und können von dort ausgehend auch noch einmal sehen, wo Jugendämter und Familiengerichte versagt haben, und das gilt es auch noch einmal in einer nächsten Periode genauer anzuschauen und aufzuarbeiten.
Kinderschutz basiert auf umfassender Etablierung von Kinderrechten
Schulz: Da würde ich aber an der Stelle gerne auch schon nachfragen, mit Blick auf die Uhr allerdings, mit der Bitte um eine geraffte Antwort. Haben Sie schon erste Ideen zu Schlussfolgerungen? Wo muss der Kinderschutz nachjustiert werden? Welche Stellschrauben müssen da bedient werden?
Andresen: Für uns ist ganz wichtig, dass der Kinderschutz basiert auf einer umfassenden Etablierung von Kinderrechten. Der Kinderschutz muss darauf zielen, dass Erwachsene, die mit Kindern zu tun haben, genügend Wissen haben und das auch immer wieder einholen, das Wissen zu sexuellem Kindesmissbrauch, zu Täterstrategien und zu Folgen, die sexueller Missbrauch von Kindern haben kann. Das ist ganz wichtig. Und es müssen alle Bereiche, nicht zuletzt Richterinnen und Richter in den Familiengerichten wirklich qualifiziert werden, um auf betroffene Kinder auch entsprechend eingehen zu können, um sexuellen Kindesmissbrauch identifizieren zu können, damit Kinder wirklich umfassend geschützt werden. Und wir brauchen letztendlich eine Haltung in der gesamten Gesellschaft, die dazu führt, dass Kinder ernst genommen werden, Jugendliche bis hin zu heute erwachsenen Betroffenen, dass sie nicht erneut ohnmächtig sich fühlen und diskriminiert werden. Das hat mit uns allen zu tun.
Schulz: Vielen Dank! Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen an der Stelle ins Wort fallen muss. Die Vorsitzende der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, Sabine Andresen heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank für Ihre Schilderungen.
Andresen: Ich danke Ihnen.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen