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Kommissionspräsidentin zur Lage der EU
Von der Leyen setzt auf starke deutsche Präsidentschaft

Für Schwung und auch mal für Druck bei schwierigen Verhandlungen solle die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sorgen, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) im Dlf. Vom geplanten milliardenschweren Corona-Wiederaufbauplan der EU könne die Bundesrepublik profitieren.

Ursula von der Leyen im Gespräch mit Peter Kapern |
200620 -- BRUSSELS, June 20, 2020 Xinhua -- European Commission President Ursula von der Leyen speaks at a press conference following a video conference of European leaders at the EU headquarters in Brussels, Belgium, June 19, 2020. European leaders met at a video conference on Friday, discussing an ambitious fund to help the European economies recover from the COVID-19 pandemic. But no consensus was reached. The heads of state and government of the European Union s member states hopefully will meet again physically in July to address their differences, President of the European Council Charles Michel told media following the video conference. European Union/Handout via Xinhua BELGIUM-BRUSSELS-EU-COVID-19-VIDEO CONFERENCE PUBLICATIONxNOTxINxCHN
Es stehen gewaltige Themen an, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Dlf. (imago images / Xinhua)
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) sieht gerade in der Coronakrise hohe Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft ab dem 1. Juli. "Wir brauchen eine starke Präsidentschaft", sagte von der Leyen im Dlf. Es stünden "gewaltige Themen" wie der europäische Wiederaufbau-Plan an. Hierbei müsse über die Details noch hart verhandelt werden. Als weitere große Themen nannte Leyen die Digitalisierung und den Kampf gegen den Klimawandel.
Auf einem EU-Gipfel Mitte Juli soll ein Programm für den wirtschaftlichen Wiederaufbau in der EU wegen der Coronakrise beschlossen werden. Auf dem Tisch liegt ein Vorschlag für einen schuldenfinanzierten Konjunktur- und Investitionsplan im Umfang von 750 Milliarden Euro. Davon sollen 500 Milliarden Euro als Zuschüsse an die EU-Staaten fließen, der Rest als Kredite.
"Das Geld geht nicht in eine Richtung"
"Es war notwendig, dass die Kommission den großen Vorschlag auf den Tisch legt", sagte von der Leyen dazu. Es sei gut, dass mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine sehr erfahrene Politikerin in der deutschen Ratspräsidentschaft Verantwortung trage. Wer die Präsidentschaft innehabe, müsse hinter den Kulissen vermitteln und zu verhandeln, für Schwung sorgen und auch Druck machen und Kontrahenten an einen Tisch bringen.
Brüssel: Ursula von der Leyen (CDU), Präsidentin der Europäischen Kommission, ist während einer Videokonferenz der Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten mit Kollegen aus den Ländern der Östlichen Partnerschaft auf einem Monitor zu sehen. 
EU-Wiederaufbaufonds - Führung wird benötigt
Der EU-Gipfel zum Wiederaufbaufonds habe einen wichtigen Fortschritt gebracht, kommentiert Peter Kapern. Die Mitgliedsstaaten argumentierten nun nicht mehr ideologisch aufgeladen, sondern politisch.
Das Programm werde den Binnenmarkt beleben, sagte die Kommissionschefin. Der EU-Binnenmarkt sei der Garant für Wohlstand und eine gut funktionierende Wirtschaft. Kritik an einer zu hohen Belastung des deutschen Steuerzahlers wies von der Leyen zurück. Deutschland profitiere wirtschaftlich enorm von einem funktionierenden Binnenmarkt. "Das Geld geht nicht in eine Richtung, sondern wir alle profitieren von dieser Investition", sagte von der Leyen. Zugleich erklärte sie, dass es nicht nur Investitionen geben werde, sondern dass auch "länderspezifische Reformen" in bestimmten EU-Staaten notwendig seien.
Zu den Gesprächen mit Großbritannien über ein Handelsabkommen nach dem Brexit sagte von der Leyen: "Wir wollen ein Abkommen mit unseren britischen Freunden. Aber wir wollen es nicht um jeden Preis. Das heißt, es werden unsere Prinzipien und Grundsätze nicht aufgegeben."
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)

Das Interview in voller Länge:
Peter Kapern: Frau von der Leyen, es ist ja nur einige wenige Monate her, da schien das Corona-Virus die Europäische Union förmlich in ihre Bestandteile zu zerlegen. Ich erinnere einmal daran, dass Schutzausrüstung, medizinische Apparate aus Deutschland nicht mehr in die Partnerländer exportiert werden durften. Frankreich hat Atemmasken beschlagnahmt, damit sie das Land nicht mehr verlassen und die Schlagbäume an den Binnengrenzen sind schneller gefallen, als man gucken konnte. Und das Ergebnis waren Misstrauen, Exzesse des Eigennutzes und Reaktionen bis hin zu wütenden antideutschen Protesten, in Italien beispielweise. Wie groß ist eigentlich der angerichtete Schaden?
Ursula von der Leyen: Ich glaube, die Wunden sind noch spürbar, aber sie heilen und was das Wichtigste ist, Sie haben es eben geschildert, die Mitgliedstaaten haben teilweise am Anfang aus einem nachvollziehbaren Reflex, weil sie die eigene Bevölkerung auch vermeintlich so schützen wollten, sehr stark nach innen auf sich selber geschaut. Dann wurde aber auch sehr deutlich klar, dass wir damit unsere große europäische Errungenschaft zerstören, dass wir nämlich, wenn wir uns zusammentun, dann stark und gut sind.
Das konnte man in der Tat an Beispielen sehen, dass plötzlich der Warenfluss für medizinische Güter unterbrochen war, aber insgesamt auch die Wirtschaft durch die Grenzen, die plötzlich geschlossen waren, erheblichen Schaden genommen hat und dann wurde klar für alle Mitgliedstaaten, wir schaden uns dadurch, und das große Europäische ist das, was uns Kraft und Stärke gibt und in dem Moment, wo wir wieder gemeinsam europäisch vorangegangen sind, an den Grenzen die grünen Korridore eingeführt haben, gemeinsam dafür gesorgt haben, dass medizinische Güter eingekauft werden global und dass wir sie auch miteinander verteilen, ging es besser und jetzt insbesondere bei der großen Wirtschaftskrise ist spürbar, dass alle zu Recht sagen, zusammen als 27 mit dem europäischen Gedanken oben drüber, haben wir eine Stärke, die sonst kein anderer entwickeln kann.
"Auf dem Feld der Gesundheit hat die Kommission wenige Kompetenzen"
Peter Kapern: Trotzdem würde ich noch einmal daran erinnern, dass in dieser Phase, in dieser ersten Phase dieser Renationalisierung in der Europäischen Union die Kommission ja im Prinzip dauernd als Reparaturbetrieb unterwegs war, um das tagtägliche Desaster auszubügeln, das die Natioalstaaten mit ihren Alleingängen da angerichtet haben. Was braucht die Kommission eigentlich, was braucht die Europäische Union, um diesen Renationalisierungsreflex in der nächsten Krise nicht wieder hochkommen zu lassen?
von der Leyen: Ich glaube, wir müssen hier zwei Felder unterscheiden. Auf dem Feld der Gesundheit hat die Kommission wenige Kompetenzen. Das hat auch seinen Sinn. Die Mitgliedstaaten sind für die Krankenhäuser, für die Ärztinnen und Ärzte, das Pflegepersonal, die Ausrüstung zuständig. Das ist sinnvoll. Wir haben aber gelernt, auch dass es Themen gibt, die müssen wir europäisch bewältigen und besser machen und deshalb eben auch mit neuem Schwung jetzt angehen, zum Beispiel, dass Daten robust erhoben werden in so einer Pandemie und wir den europäischen Überblick auch über die Entwicklung der Pandemie haben.
Jetzt ist, das haben wir neu eingeführt, die Europäische Union in der Lage, selber medizinische Schutzgüter einzukaufen, sie zu lagern und zu verteilen an die, die es dringend brauchen, nur um zwei Felder zu nehmen. Wir sind jetzt als Europäische Kommission dabei, mit den Pharmafirmen, die in Europa produzieren, zu verhandeln, dass, falls eine davon den Impfstoff hat, wir für die europäische Bevölkerung jetzt schon Kapazitäten aufbauen, dass wir garantiert auch Impfdosen haben und einen fairen Anteil auch übrigens für unsere Nachbarn und die Länder, die arm sind und sich das selber nicht leisten können, auch zur Verfügung stellen mit den Pharmafirmen. Das sind alles Felder, wo wir jetzt besser werden müssen, aber mir ist ein zweiter Teil auch wichtig, das Feld der Wirtschaft, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Da hat die Europäische Union große Kompetenzen und da haben wir schnell gehandelt.
Wir haben die Staatsbeihilfen flexibel gemacht, wir haben den Stabilitätspakt so gelockert, dass sofort Milliarden und Abermillarden injiziert werden konnten in die Wirtschaft bei der Lähmung der Wirtschaft. Wir haben ein Paket für Kurzarbeit auf den Weg gebracht, nur um einige Themen zu nennen. Hier merkt man, wie sehr die Europäische Union zusammengewachsen ist und wie hilfreich dann diese existierenden Strukturen sind in einer schweren Krise, schnell und flexibel zu handeln.
Kapern: Jetzt haben wir ein wenig das Feld der letzten Monate umrissen. Wir haben gezeigt, wie die ersten Wochen waren nach Ausbruch der Coronakrise, in denen durchaus erheblicher Schaden angerichtet wurde. Wir haben kurz skizziert, wie sich die EU dann neu aufgestellt hat in den darauffolgenden Wochen und jetzt sind wir in der Situation, in der Deutschland die Ratspräsidentschaft übernimmt.
Der Ständige Vertreter der Bundesrepublik hier bei der Europäischen Union, der hat kürzlich gesagt, dass die Erwartungen, die in den anderen EU-Ländern an Deutschland gerichtet werden mit Blick auf diese Präsidentschaft, so hoch seien, dass ihm das manchmal nächstens schon den Schlaf raube. Wir der Mann, der Herr Clauss, so heißt er, zu Recht um den Schlaf gebracht?
von der Leyen: Nun, die Erwartungen sind hoch. Das ist richtig, aber ich finde das gut. Wir sind inmitten einer schweren Krise, ausgelöst durch das Virus, und wir brauchen eine starke Präsidentschaft und wir haben das große Glück, mit der Bundeskanzlerin eine sehr erfahrene Präsidentschaft für das nächste halbe Jahr zu haben. Und es stehen gewaltige Themen an. Es steht unser Wiederaufbauplan an, Next Generation EU, der übrigens die tiefe Zerstrittenheit gelöst hat in den letzten Wochen und alle versammeln sich hinter diesem Plan. Wir müssen über die Details hart verhandeln noch, aber dass wir gemeinsam aus dieser Krise mit Next Generation EU raus können, da stimmen alle überein.
Es sind aber auch große Themen, die die Ratspräsidentschaft bewegen muss, wie den Kampf gegen den Klimawandel, wie die Digitalisierung. Das sind alles Themen, die wir nach vorne bringen wollen in den nächsten sechs Monaten und da ist es gut, eine sehr erfahrene Präsidentschaft zu haben.
Brüssel: Ursula von der Leyen (CDU), Präsidentin der Europäischen Kommission, ist während einer Videokonferenz der Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten mit Kollegen aus den Ländern der Östlichen Partnerschaft auf einem Monitor zu sehen. 
EU-Wiederaufbaufonds - Führung wird benötigt
Der EU-Gipfel zum Wiederaufbaufonds habe einen wichtigen Fortschritt gebracht, kommentiert Peter Kapern. Die Mitgliedsstaaten argumentierten nun nicht mehr ideologisch aufgeladen, sondern politisch.
Kapern: Was ist eigentlich aus Ihrer Sicht die vorrangige Aufgabe eines Landes, das die EU-Ratspräsidentschaft innehat: Die eigenen Interessen zurückzustellen, um so als ehrlicher Makler Kompromisse aushandeln zu können?
von der Leyen: Nun, man kann das ganz gut an unserem Wiederaufbauplan Next Generation EU sehen. Es war notwendig, dass die Kommission den großen Vorschlag auf den Tisch legt, 1850 Milliarden Euro in einem Gebilde, das zuverlässig garantiert, dass nationale Wiederaufbaupläne verbunden werden mit unseren großen europäischen Prioritäten, dem europäische Green Deal, der Digitalisierung und Erhöhung der Widerstandfähigkeit, also der Resilienz unserer Wirtschaft. Aber jetzt muss das Ganze in 27 Mitgliedstaaten, im Rat verabschiedet werden und im Europäischen Parlament.
Und da ist eben die europäische Präsidentschaft, in diesem Fall Deutschland, ganz entscheidend, um hinter den Kulissen in der Tat zu vermitteln, zu verhandeln, Schwung reinzubringen, Druck zu machen, mal auch Kontrahenten an einen Tisch zu bringen und da ist es gut, wenn man eine sehr erfahrene Präsidentschaft hat, denn das ist viel Arbeit und deshalb sind eben die Erwartungen auch so hoch. Da Deutschland sehr geholfen hat, gemeinsam mit Frankreich, dass wir am Anfang diesen großen Vorschlag auf den Tisch legen konnten und alle erst einmal bereit waren, sich auch konstruktiv damit auseinanderzusetzen, ist es auch im deutschen Interesse, dass wir dieses Paket durchbringen, denn es belebt wieder den Binnenmarkt und der Binnenmarkt ist der Garant, das wissen wir alle, für unseren Wohlstand und für eine gut funktionierende Wirtschaft.
"Unsere Unternehmen müssen alle digitaler werden"
Kapern: Trotzdem werden in diesem Zusammenhang, Frau von der Leyen, immer wieder kritische Fragen formuliert. Sie haben gerade das Gesamtpaket, das finanzielle Gesamtpaket umrissen, 1,85 Billionen Euro. Die setzen sich zusammen aus 1,1 Billionen für die siebenjährige mittelfristige Finanzplanung, für die Europäische Union und zusätzlichen 750 Milliarden als Antwort auf die wirtschaftliche Coronakrise.
750 Milliarden, die sich die Kommission an den Finanzmärkten leihen soll, um damit die am stärksten von der Corona-Krise betroffenen Regionen und Branchen wieder auf die Beine zu bringen. Ich habe in dieser Woche eine E-Mail von einem Hörer bekommen, der mich für meine Berichterstattung über Next Generation EU kritisiert hat, weil ich nämlich in diesem Beitrag überhaupt nicht erwähnt habe, dass in Italien die Privatvermögen größer und die Steuerlast sowie das Renteneintrittsalter niedriger seien als in Deutschland.
Kurz und gut, der Hörer wollte jetzt wissen, warum soll eigentlich mit dem Geld deutscher Steuerzahler, das ja benötigt wird, um die Kredite wieder zurückzuzahlen, auch der Wiederaufbau der italienischen Wirtschaft bezahlt werden? Was würden Sie dem Mann antworten?
von der Leyen: Also, erst einmal würde ich ihm antworten, dass in Norditalien ein sehr gut funktionierender starker Mittelstand ist, so wie wir ihn aus Deutschland auch kennen, und dass wir ganz eng verflochten sind in unseren wirtschaftlichen Beziehungen und auch die Leistung unserer Unternehmen unter anderem zum Beispiel von diesen Zulieferbetrieben in Norditalien mit abhängt. Ich will damit nur zeigen, dass wir einen ganz eng verflochtenen Binnenmarkt haben. Deutschland exportiert enorm viel in den europäischen Binnenmarkt. Da kommt unser Wohlstand her.
Der zweite Punkt ist auch wichtig, denn wir wollen als Europäische Kommission Anleihen am Markt ausgeben und Geld aufnehmen, das durch den europäischen Haushalt dann in unsere europäischen Programme fließt. Wir nehmen ein Beispiel, die gesamte Forschungslandschaft profitiert in hohem Maße davon, dass es die europäischen Förderprojekte gibt. Wir wissen, das hat uns stark gemacht, unsere ganzen Innovationen auch nach vorne gebracht. Davon profitiert Deutschland enorm.
Das heißt, es ist nicht so, dass das Geld in eine Richtung nur fließt, sondern es fließt in die großen wichtigen europäischen Programme, von denen wir wissen, dass sie unsere Stärke und unsere wirtschaftliche Kraft ausgemacht haben und deshalb ist dieses Paket dazu da, den europäischen Mehrwert unseres Binnenmarktes zu festigen. Wenn wir unseren Binnenmarkt digitalisieren, heißt das eben auch, es reicht nicht, dass es weltweit einige Giganten im digitalen Markt gibt, sondern unsere Unternehmen müssen alle digitaler werden, und dieser deutsche Hörer wird genau wissen, wie wichtig es eben auch ist, in Deutschland die Digitalisierung voranzubringen, damit wir wettbewerbsfähig bleiben und auch in der nächsten Generation die Kraft haben, die wir heute am Weltmarkt haben. Das sind alles Beispiele, die zeigen, das Geld geht nicht in eine Richtung, sondern wir alle profitieren von dieser Investition.
Kapern: Kritik an Next Generation EU kommt ja nicht nur von Deutschlandfunk-Hörern, sondern auch von jener Staatengruppe, die sich selbst die Sparsamen Vier nennen, die sich diesen Namen zugelegt haben, und die werfen bestimmte Fragen auf, die sich nicht so einfach vom Tisch wischen lassen. Zum Beispiel diese hier: Da ist es also das erklärte Ziel von Next Generation EU, die am stärksten von der Coronakrise betroffenen Regionen zu stützen, und dann stellt man mit Blick auf den geplanten Verteilschlüssel für das Geld fest, dass proportional am besten Länder abschneiden sollen, in denen das Virus weit weniger gewütet hat als in anderen, also beispielsweise Polen und Bulgarien besser als Italien. Warum soll das so sein, Frau von der Leyen?
von der Leyen: Ja, also, vielleicht für die Hörerinnen und Hörer, nicht in der Gesamtsumme, sondern das ist richtig, was Sie sagen, im Prozentsatz zum Bruttoinlandsprodukt, weil Bulgarien einfach sehr viel kleiner ist als Italien. Zwei Dinge: Ich gebe den Frugal Four durchaus Recht und man muss ihre Argumente sehr ernst nehmen. Sie sagen, sie bestehen, und das ist auch unsere Politik, darauf, dass Investition und Reformen Hand in Hand gehen. Das heißt, die nationalen Wiederaufbaupläne werden uns vorgelegt. Wir legen darüber die Prioritäten der Europäischen Union, Klimaschutz und Digitalisierung, plus länderspezifische Reformen und dann beschließt die Kommission mit dem Rat zusammen, also wir haben großen Einfluss gemeinsam, dass diese Pläne, diese Modernisierungs- und Investitionspläne, mit den Reformen dann auch finanziert werden. Das ist etwas, da haben die Frugal Four Recht. Das gilt für Italien und Spanien genauso wie für Bulgarien und Polen.
Es gibt einen zweiten Punkt, der zeigt, warum im Osten die Länder auch so stark betroffen waren, obwohl das Virus da nicht so gewütet hat. Da haben Sie Recht, denn alle Länder haben den Lockdown gemacht. Das heißt, die Wirtschaft ist mit Massivität betroffen gewesen vom Lockdown, auch wenn die Viruslast nicht so hoch war, auch wenn Gott sei Dank nicht so viele Menschen gestorben sind, Gott sei Dank nicht so viele Menschen infiziert waren, einfach weil früh der Lockdown quer durch Europa dann auch stattgefunden hat, und das zeigt: Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind massiv und hart, unabhängig auch davon, wie sehr das Virus auf der gesundheitspolitischen Seite gewütet hat. Polen und Bulgarien, bei Bulgarien ist es ja selbsterklärend, bei Polen kommt noch eine Komponente hinzu. Polen muss mit seinen großen Kohlefeldern einen weiten Weg gehen bis zur Klimaneutralität. Und auch hier gilt: Investitionen und Reformen, wenn die Investitionen in Richtung Klimaschutz, Übergang in saubere Technologien, Klimaneutralität gehen, dann kommen die Investitionen aus Europa.
"Es ist nicht gut für beide Seiten, wenn wir kein Abkommen haben"
Kapern: Frau von der Leyen, ein weiteres Mega-Thema der kommenden Wochen und Monate, mit dem die deutsche Ratspräsidentschaft und Sie natürlich auch befasst sein werden, das sind die Verhandlungen mit London über die Post-Brexit-Beziehung. Die Europäische Union bietet den Briten eine dreifache Nulllösung an, null Zölle und null Quoten für britische Waren, die auf den Binnenmarkt exportiert werden sollen. Und im Gegenzug soll London die Versicherung geben, dass es von britischer Seite auch null Dumping gibt, also etwa keine abgesenkten Hürden bei Umwelt- und Verbraucherschutz, bei den Standards für Steuern und Staatsbeihilfen.
Unter ökonomischen Gesichtspunkten ist das vielleicht ein Angebot, das man gar nicht ablehnen kann. Allerdings: Die britische Regierung lehnt es ab, und zwar wieder und wieder. Wie lange soll Michel Barnier eigentlich noch mit diesem Ladenhüter hausieren gehen in London?
von der Leyen: Nun, wir wollen ein Abkommen mit unseren britischen Freunden, aber wir wollen es nicht um jeden Preis. Das heißt, es werden unsere Prinzipien und Grundsätze nicht aufgegeben und in der Tat, das eine Thema ist fairer Wettbewerb, der muss sein. Das Zweite ist die Tatsache, dass wir für unsere Bürgerinnen und Bürger beim Schutz der Grundrechte und da, wo europäisches Recht betroffen ist, im Streitschlichtungsmechanismus den Europäischen Gerichtshof haben wollen, das gehört dazu. Fischerei ist ein großes Thema und das Thema des Datenschutzes, wenn wir Zugang zu unsern Daten auch ermöglichen. So, das sind Grundprinzipien neben den vielen, vielen, vielen anderen Themen, die natürlich auch weiter miteinander verhandelt werden. Und hier sind wir sehr klar, dass wir die respektiert sehen möchten, so wie Großbritannien natürlich auch seine Standpunkte hat. Wir wollen ein Abkommen. Es ist besser für beide Seiten. Wir sagen aber auch, wenn es kein Abkommen gibt, sind wir vorbereitet und wir sind besser vorbereitet.
Straßburg: Manfred Weber, Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europaparlament, Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, und David McAllister, Vorsitzender Auswärtiger Ausschuss des Europaparlaments, stehen vor Beginn der Plenarsitzung zusammen. 
"Das Angebot der EU ist für Großbritannien hochattraktiv"
Die EU wolle ein Partnerschaftsabkommen mit Großbritannien, sagte der CDU-Europapolitiker David McAllister im Dlf. Ein solches Angebot habe man einem Drittstaat noch nie gemacht.
Kapern: Sie sagen, die EU will ein Abkommen. Viele Beobachter, Politiker wie Journalisten, sind überzeugt, dass Boris Johnson aber gar kein Abkommen will. Sind Sie sicher, dass diese Beobachter falsch liegen?
von der Leyen: Diese Entscheidung muss Großbritannien selber treffen. Ich kann hier nur dazu sagen, es ist nicht gut für beide Seiten, wenn wir kein Abkommen haben, aber wir als Europäer haben schon unsere Vorteile, denn wir haben einen gemeinsamen Markt zu 27. Großbritannien hat nur seinen Heimatmarkt. Und wenn man sich einmal anschaut, wie wir vernetzt sind in der Welt: Wir haben, ich glaube, es sind über 700 oder über 750 internationale Abkommen, die sind da, vom Flugverkehr bis zum Handel, und Großbritannien, weil es bisher Teil dieser Abkommen war, hat kein einziges.
Das heißt, wenn man das bis zu Ende denkt, so glaube ich, noch einmal, wir wollen ein Abkommen, aber ich glaube, es ist wichtig, dass Großbritannien auch noch einmal sehr intensiv darüber nachdenkt, ob es zurückfallen will auf den Status eines Drittlandes und von da aus fangen wir an, dann mühsam zu verhandeln wie mit allen anderen Drittländern oder Drittstaaten, oder ob es nicht sinnvoll ist, jetzt in der gegebenen Frist, wir haben lange Vorarbeiten auch geleistet, miteinander eine gute Lösung zu finden für einen gemeinsamen Start in die neue Zeit.
Kapern: Machen wir noch einen Themenwechsel, Frau von der Leyen. Wer in der Europäischen Union legt eigentlich letztinstanzlich das Europarecht aus? Wer sagt letztverbindlich, was in der EU Recht ist und was nicht?
von der Leyen: Also, schlussendlich bei den europäischen Rechtsfragen ist es der Europäische Gerichtshof, der über die Rechtsstreitfragen dann auch schlussendlich entscheidet.
Kapern: Sie ahnen natürlich, worauf ich hinaus will.
von der Leyen: Ja.
Kapern: Natürlich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Anfang Mai, in dem Karlsruhe der EZB ein kompetenzwidriges Anleiheankaufprogramm und dem Europäischen Gerichtshof ein nicht nachvollziehbares Urteil attestiert hat. Das war ein Zitat. Seither prüft die EU-Kommission die Einleitung eines Vertragsverletzungsvefahrens gegen Deutschland. Lässt die Dauer der Prüfung darauf schließen, dass Sie das Thema am liebsten stillschweigend beerdigen möchten?
von der Leyen: Es ist ein sehr komplexes und wichtiges Thema und deshalb gehen wir so sorgfältig damit um. Die Kommission ist die Hüterin der Verträge. Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts müssen wir sehr gründlich analysieren, um dann zu handeln, denn es geht um Grundprinzipien unserer Union. Es geht in der Tat um zwei grundsätzliche Fragen, einerseits die Unabhängigkeit der EZB, aber die zweite, die größere Frage ist das Verhältnis der Europäischen Union zu seinen Mitgliedstaaten und da die Frage nach dem Vorrang des europäischen Rechtes. Nämlich ob der Europäische Gerichtshof bei europäischen Rechtsfragen das letzte Wort hat. Hier gehört, noch einmal zur Erklärung, auch natürlich dazu, dass diese Frage, über die das Bundesverfassungsgericht geurteilt hat, schon abschließend vom Europäischen Gerichtshof behandelt worden war. Das heißt, das ist eine sehr, sehr grundsätzlich Frage, die übrigens nicht nur Deutschland betrifft.
Ich glaube, das ist auch wichtig hier. Deshalb nehmen wir uns dessen auch so ernsthaft und mit der gebührenden Sorgfalt an, denn wenn diese Frage, die im Raum steht, wer spricht eigentlich schlussendlich Recht über europäisches Recht, die betrifft auch Polen. Die betrifft auch Ungarn zum Beispiel, wenn der Europäische Gerichtshof abschließend zum Beispiel über Rechtsstaatlichkeit geurteilt hat oder über Wettbewerbsfragen oder über Migrationsfragen. Kann es dann sein, dass ein nationales Gericht diese Urteile wieder aufhebt? Unserer Meinung nach muss das deutlich miteinander noch einmal geklärt werden und deshalb gehen wir mit der gebotenen Sorgfalt jetzt daran und wir werden das dann mit den Mitgliedstaaten, und das ist immer der erste Schritt, in einem strukturierten Dialog klären.
Andreas Voßkuhle, Vorsitzender des Zweiten Senats beim Bundesverfassungsgericht, setzt nach der Urteilsverkündung des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu milliardenschweren Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) am 05.05.2020 seine Kopfbedeckung auf.
EZB-Urteil des Verfassungsgerichts - Ein Erdbeben, ausgelöst in Karlsruhe
Das Urteil des BVerfG zum Anleihekaufprogramm der EZB hat Schockwellen ausgelöst. Während das Urteil unter Ökonomen umstritten ist, kämpft die EU bereits gegen die Folgen an.
Kapern: Aber unsere Hörerinnen und Hörer können aus diesem Gespräch mitnehmen, dass das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland in dieser Sache nicht vom Tisch ist.
von der Leyen: Das kann nicht vom Tisch sein, denn die Rechtsschritte schreiben vor, dass wir uns, wenn wir uns mit dieser Frage, und das tun wir, beschäftigen, weil sie jetzt aufgeworfen worden ist, muss aber erst einmal der strukturierte Dialog beginnen, der idealerweise auch zwischen den Gerichten ist, um diese Fragen Schritt für Schritt zu klären.
Kapern: Zu Beginn Ihrer Amtszeit, Frau von der Leyen, da haben Sie das Zeitalter der geopolitischen EU-Kommission ausgerufen. Deswegen möchte ich noch ein internationales Thema mit Ihnen erörtern. In der kommenden Woche, so wird vermutet, beginnt Israel mit der Annexion von Teilen des Westjordanlands. Wie würde die Europäische Union darauf reagieren?
von der Leyen: Ja, wir verfolgen sehr, sehr aufmerksam diese aktuelle Debatte in Israel und die Frage der Annexionspläne im Westjordanland. Der UN-Sicherheitsrat hat diese Frage diese Woche auch intensiv diskutiert, der Außenministerrat möchte vorweg da sehr deutlich sagen, dass die Position der internationalen Staatengemeinschaft hier ganz klar ist, dass das Ziel sein muss, eine friedliche Zwei-Staaten-Lösung und dass eine Annexion dem Völkerrecht widerspricht und zahlreichen anderen internationalen Verpflichtungen, die Israel auch eingegangen ist. Auch das gehört einfach mit auf den Tisch.
Jetzt ist im Augenblick die Diskussion breit darüber, wie ich sagte, im Sicherheitsrat, im Außenministerrat, der Hohe Beauftragte hat diese Diskussion in dem Rat geführt. Die Ausgangslage ist klar. Was wir wollen, ist klar. Jetzt müssen wir sehen, wie die weiteren Schritte sind, die Israel unternimmt oder nicht unternimmt.
Kapern: Es wird über Sanktionen diskutiert. Die Bundesregierung hat sich dagegen positioniert. Kann Israel weiter beispielsweise am EU-Forschungsprogramm Horizon Europe teilnehmen, wenn die israelische Regierung Gebiete im Westjordanland annektiert?
von der Leyen: Herr Kapern, das ist sehr, sehr spekulativ, denn dann müssten ja vorher ganz andere Schritte noch gegangen worden sein. lch glaube, wir sind alle gut beraten, jetzt wohl mit großer Aufmerksamkeit, aber zu beobachten, was Israel tut und dann gibt es genau abgestufte Verfahren, auch des Entscheidungsprozesses, wie reagiert wird innerhalb der Europäischen Union.
Die Mitgliedstaaten haben ein gewichtiges Wort dort mitzusprechen. Auch die Frage der Instrumente, mit denen man reagiert, ist eine breite, offene Frage. Die können wir beide heute hier gar nicht beantworten, denn entscheidend ist erst einmal, was tut Israel oder was tut es nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.