Dirk-Oliver Heckmann: Eigentlich sind es nur Kommunalwahlen, die morgen in der Türkei stattfinden, doch Staatspräsident Erdogan selbst hat die Abstimmung zu einer Frage des nationalen Überlebens hochstilisiert. Und das ist auch kein Wunder, denn seine AKP droht in wichtigen Städten die Mehrheit zu verlieren, so zum Beispiel in Ankara, vielleicht aber auch in Istanbul.
Cemal Bozoglu von Bündnis 90/Die Grünen ist Mitglied des bayrischen Landtags und er ist auf dem Weg in die Türkei, um die Wahl dort zu beobachten. Ich habe ihn vor einer Stunde gesprochen und ihn gefragt: Erdogan selbst steht nicht zur Wahl, und seine Amtszeit endet erst in vier Jahren. Weshalb ist die Kommunalwahl dennoch so entscheidend?
Cemal Bozoglu: Hier geht es eigentlich darum, wer mehr als 50 Prozent hinter sich hat. Jetzt könnte man normalerweise – Kommunalwahlen haben ja Aspekte natürlich, die kommunale Politik spielt auch eine Rolle, aber diese Brisanz, eine knappe Mehrheit über 50 Prozent, macht die Kommunalwahlen eigentlich auch sehr wichtig.
Und wenn hier eine Entscheidung rauskommt, in den größten Städte der Türkei wie Istanbul, Ankara, Bursa, Izmir sowieso eine Mehrheit da ist, die nicht die Regierung unterstützt oder positiv gegenüber der Regierung steht, dann ist das schon ein starkes Signal Richtung Regierung, dass sie in dem Land keine Mehrheit mehr haben.
Massive Einschnitte nach Kommunalwahl erwartet
Heckmann: Das Land, das geht ja durch die stärkste Wirtschaftskrise seit Erdogans Machtübernahme, die Inflation liegt bei 20 Prozent, die Türkische Lira ist auf Talfahrt. Wie gefährlich ist diese Entwicklung für Erdogans AKP?
Bozoglu: Eigentlich sehr wichtig, auch eine sehr ernste Situation. Die haben deshalb auch die letzten Parlamentswahlen eigentlich vorgezogen, dass sie nicht mitten in der Wirtschaftskrise landen. Momentan steht die Türkei wirtschaftlich mit dem Rücken an der Wand, und die machen eigentlich Politik, so eine Vierteljahrespolitik auf die Wirtschaft bezogen. Man erwartet nach der Kommunalwahl eigentlich auch noch massive Einschnitte für die Bevölkerung.
Heckmann: Erdogan hat ja das Ausland verantwortlich gemacht für die Wirtschaftskrise, was ist da aus Ihrer Sicht dran?
Bozoglu: Das kann ich nicht teilen, weil eigentlich die Regierungspolitik … seit den letzten fünf bis zehn Jahren polarisiert er das Land und schafft Unsicherheit, und das wirkt sich natürlich massiv auf die Wirtschaft aus. Und das ist nach meiner Ansicht die Ursache, warum die Türkei so momentan wirtschaftlich in einer Sackgasse gelandet ist.
Heckmann: Polarisiert das Land, haben Sie gerade gesagt, Herr Bozoglu, er hat ja den Ton gegenüber seinen politischen Gegnern jetzt auch noch mal verschärft, jetzt im Wahlkampf, spricht von Terroristen, die da zur Wahl stehen würden, mit Blick auch auf die kurdische HDP. Sind in diesem Klima faire Wahlen möglich?
Bozoglu: Eigentlich ist die Ausgangslage natürlich sehr schwierig für die Oppositionsparteien. Alle Staatsmittel, einschließlich auch der Staatspräsident selber, werden für die Regierungspartei oder Kandidaten für die Regierungspartei bereitgestellt, und die Medienlandschaft, 80 Prozent von der Regierung gesteuert. Und in dieser Situation kann man natürlich von freien demokratischen Wahlen nicht sprechen. Aber uns geht es ja darum, dass mindestens mal Menschen an den Wahlurnen nicht gehindert werden, dass sie ihre freie Entscheidung treffen, und das ist eigentlich unsere Intention.
Mit Außenkonflikt die Sache in den Griff bekommen?
Heckmann: 2016, da hat die Regierung die gewählten Bürgermeister der kurdisch geprägten HDP ihres Amtes enthoben wegen ihrer angeblichen Nähe zur terroristischen PKK. Wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit aus Ihrer Sicht, dass das wieder passiert, denn Erdogan hat das ja schon angekündigt.
Bozoglu: Das kann er nicht so oft machen. Vom Bürger gewählte Bürgermeister aus dem Amt jagen, das kann er nicht so oft machen. Das hat er ja gemacht, aber das war nicht nur in kurdischen Städten, es war auch in Großstädten wie in Bursa oder auch Ankara wurden die Bürgermeister von ihrem Dienst suspendiert und wurden auch entmachtet, aber das kann er nicht so oft machen. Wenn er das diesmal das noch mal machen würde, dann würde keiner mehr an die demokratische Verhältnisse der Türkei glauben.
Heckmann: Und das würde ihn stören?
Bozoglu: Ich bin auch der Meinung, dass das Land so nicht weiter geführt werden kann, und er steuert das eigentlich in die Richtung, dass das Land gespalten wird, auch dass die Menschen ihren Glauben an die demokratischen Verhältnisse verlieren. Und das ist auch für ihn nicht gut, und für seine Zukunft auch.
Heckmann: Auf einer Wahlveranstaltung hat Erdogan heute Vormittag ganz frisch angekündigt, die Türkei werde nach den Wahlen am Sonntag die Syrien-Frage "auf dem Feld lösen", so das Zitat. Wie sehr ist das Anlass zur Beunruhigung?
Bozoglu: Ich bin von nichts überrascht. Von daher, ich meine, die innenpolitische Lage für Erdogan ist sehr kritisch, das sieht man auch allein an den Kommunalwahlen, wie die Bevölkerung eigentlich spaltet, polarisiert, die Stabilität des Landes ist ja nicht da, und ich kann mir auch denken, dass er mit so einem Außenkonflikt die Sache noch mal in den Griff bekommen möchte. Aber das wäre ein noch größeres Abenteuer für die Türkei.
Heckmann: Cemal Bozoglu war das vom Bündnis 90/Die Grünen, Mitglied des bayrischen Landtags. Er ist auf dem Weg nach Istanbul, um dort die Kommunalwahlen zu beobachten. Herr Bozoglu, danke Ihnen für Ihre Zeit!
Bozoglu: Schönen Dank auch!
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