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Kommunikation im Wandel der Zeiten
Zwischen Briefkultur und WhatsApp

Neuigkeiten und Nichtigkeiten austauschen - dieses Bedürfnis hatten Menschen schon lange vor WhatsApp, Twitter, Facebook oder Instagram. Auch Briefe gingen einst nicht nur vom Absender an den Adressaten und zurück, sondern bedienten ganze Netzwerke - nicht zuletzt als Mittel der Selbstinszenierung.

Von Eva-Maria Götz |
Die alte Botenfrau hat einen Liebesbrief vom Soldaten aus der Kaserne mitgebracht und gibt ihn der verliebten Frau. Reproduktion einer Originalvorlage aus dem 19. Jahrhundert, Originaldatum nicht bekannt.
Was mag im versiegelten Umschlag stecken? Vielleicht hatte ein Brief nach tagelangem Warten doch etwas mehr emotionale Fallhöhe als das Öffnen einer WhatsApp-Nachricht. (IMAGO / H. Tschanz-Hofmann)
"Baireuth, Freitag den 4ten Juni 1824. Kaum sind Sie fort, guter lieber Richard, setzt Ihnen schon ein Brief von mir nach".
Das schrieb Jean Pauls Tochter Emma an ihren Cousin Richard Otto Spazier, gleich nach dessen Abreise aus ihrem Elternhaus in Oberfranken. "Mögen Sie, lieber Richard, glücklich d. h. gesund angekommen sein!" Setzt ihr Vater, der damals überaus berühmte Schriftsteller Jean Paul, unter Emmas Zeilen den Brief fort und Schwester Odilie schließt: "Wie viel Freude mit Ihnen, lieber Richard, fortgegangen ist, empfinden wir bei Ihrer Entbehrung erst recht. …Möchte Sie der Brief nur recht froh und gesund treffen!"
Es ist sozusagen ein Familiengesamtkunstwerk, dieser Brief, von allen gemeinsam geschrieben. Und natürlich wird auch die ersehnte Antwort von allen gelesen werden: "Wir freuen uns Alle auf den zurückkehrenden Kutscher, der uns hoffentlich ein Briefchen von Ihnen bringt."

Reger Briefwechsel wie in einer Chatgruppe

Fast wie in einer Chatgruppe von heute, dachte sich Markus Bernauer, Professor für Literaturwissenschaften an der TU Berlin, der die umfangreichen Briefe Jean Pauls und seines weitverzweigten Umfeldes nun für die digitale Gesamtausgabe der Akademie der Wissenschaften federführend editiert.
"… so etwas wie ein WhatsApp Netzwerk, also wo man das Gefühl hat, ich bin hier in einer ganz ähnlichen Situation wie heute, wenn ich mit meinen Mitarbeitern über WhatsApp kommuniziere, wie wir das jetzt in der Pandemie gemacht haben, dann läuft das oft ganz ähnlich, wie wenn die Leute im achtzehnten Jahrhundert mit Briefen kommunizieren."
Diese Beobachtung brachte Markus Bernauer und sein Team zu ganz neuen Fragestellungen, etwa nach der Bedeutung von Privatsphäre im 18. und 19. Jahrhundert: "Interessant ist zu beobachten, dass Jean Paul selber selbst intimste Liebesbriefe weitergereicht hat - an Freundinnen, an Bekannte, an die Familie, an entferntere Familienmitglieder; dass Liebesbriefe -auch intimste -in Familien vorgelesen worden sind."

Halböffentliche Kommunikation als Mittel der Selbstinszenierung

Das Briefgeheimnis war also, so folgert Bernauer, nicht so wichtig. Wichtiger war, sich mit den Briefen vor anderen in Szene zu setzen. Und auch hier sieht er Parallelen zu einem heute weitverbreiteten Verhalten im Netz:
"… wo man sich fragt: warum geben die Leute ihre Empfindungen in dieser Form preis, wenn sie denn echt sind? Wohl weil diese Empfindungen ihre Person ausmachen, ihre Person bilden. Entscheidend sind dafür auch, wie sie wahrgenommen werden wollen. Und es ist auch klar, dass damit sich natürlich immer ein Stück der Selbstinszenierung verbindet. Also man darf nicht an die Natürlichkeit dieser Dinge glauben."
Briefe schreiben oder Billets versenden, ist, so Markus Bernauer, eine Form des öffentlichen Diskurses, die erst im späteren 19. Jahrhundert, im Biedermeier, zur Privatsache wird. Unser Umgang miteinander im Netz ist also: "..nicht einfach der Untergang des Abendlandes, sondern es ist die Rückkehr alter Formen der halböffentlichen Kommunikation, die es im Moment, in dem es Medien gegeben hat, wie den Brief als neues Medium gegeben hat, die da schon eingeübt worden sind."

Copy&Paste gab es auch schon beim analogen Brief

Der Brief war ab dem 18. Jahrhundert das soziale Medium schlechthin. Und wer mit vielen Menschen gleichzeitig im Kontakt war, konnte sich natürlich nicht ständig ein neues Thema ausdenken.
"Der Begriff Copy&Paste bezeichnet das Übertragen von Daten zwischen zwei Software-Anwendungen. Es handelt sich um das einfache eins-zu-eins-kopieren und einfügen digitaler Informationen, ein normaler, zeitsparender Vorgang, um komplizierte Informationssequenzen ohne erneute langwierige Eingabe zu übertragen. Dieses Phänomen ist insbesondere in der Briefkultur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts nicht unbekannt."
Stellt Dr. Michael Roelke, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, fest. Als besonders gelungen empfundene Formulierungen und Erzählungen finden sich fast wortgleich in Briefen an unterschiedlichste Adressaten.
Auch bei der Wahl der Themen, über die man sich austauschte, gibt es Übereinstimmung. Das Lieblingsthema war und ist: Krankheit und Gesundheit, fand Selma Jahnke, ebenfalls mit der Jean-Paul-Edition befasst, heraus: "Die unzähligen Foren, in denen medizinische Laien heutzutage im Internet ihre Erfahrungen mit Krankheiten, Behandlungsmethoden und Ärzten austauschen, stehen einer Vielzahl an Briefen gegenüber, in denen sich Korrespondenten wechselseitig über Behandlungsmethoden ihrer jeweiligen Leiden informieren, zum Teil sehr konkret."

Briefeschreiben als Beitrag zum öffentlichen Diskurs

Das Briefeschreiben war Teil der Alltagskultur, so Markus Bernauer in seinem Einführungsvortrag zur Berliner Tagung. Viele der Verfasserinnen und Verfasser wären eigentlich längst vergessen, ihre Briefe aber zeigen eine Sozialgeschichte "von unten," beziehungsweise: aus der bürgerlichen Mitte.
"Und dann kommt natürlich dazu, dass die Briefe einfach auch ein politisches Medium sind, in dem politische Fragen verhandelt werden und diskutiert werden. Was im Übrigen ja heute auch ganz ähnlich ist, und zwar in einer Breite, die man vorher so nicht kannte."
Das Bürgertum bekommt plötzlich eine Stimme. Menschen melden sich zu Wort, auf die vorher nie jemand gehört hat.
"Und in dem Moment, in dem sie schreiben, partizipieren sie auch am öffentlichen Diskurs, wenn sie ein Medium nutzen, das nicht ganz und gar privat ist. Und das Briefeschreiben hat durchaus solche Züge, ganz ähnlich, wie Sie heute das über die sozialen Medien beobachten können, die auch nicht jetzt im alten Sinn öffentlich, sondern eben halb-öffentlich sind."

"Lust und Schmerz" beim Warten auf Antwort

Eines unterscheidet das Medium Brief und unseren Umgang mit den digitalen Kommunikationswerkzeugen allerdings deutlich. Und das ist der Faktor Zeit. Früher mussten die Schreibenden tage-, wenn nicht wochenlang auf eine Antwort warten. Heute geht es ungleich schneller. Aber, so meint Jochen Strobel, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Philipps-Universität Marburg: letzten Endes ist es vielleicht nicht so wichtig, wie lange, sondern - dass man wartet.
"Für den Stress, dem sich Handynutzer unterziehen, wenn sie im Minutenabstand auf das Display starren, Geräusche oder Erschütterungen leichthin als Vibrationsalarm deuten und sich dann entweder reich beschenkt oder leer ausgegangen fühlen, ist ein einigermaßen kalkulierter Wechsel aus Lust und Schmerz verantwortlich, der mit einer Formulierung Hans von Trothas 'in der Spur des Erhabenen' angesiedelt zu sein scheint und der durch die Penetranz des technischen Mediums möglicherweise intensiver wirkt als durch eine etwa über Sprache evozierte Illusion."