"Amériques" heißt das Orchesterstück des Komponisten Edgard Varèse. Man schreibt das Jahr 1921. Der Franzose weilt seit sechs Jahre in den Vereinigten Staaten - ein Auswanderer, der dem Chaos des Ersten Weltkriegs entronnen ist, ein Wanderer zwischen Amerika und Europa, zwischen den Künsten und Kunstgenossen. Varèse ist ein Klang-Provokateur. Und ein magisches Wort der Musik-Avantgarde des 20. Jahrhunderts hatte er auf seine Fahnen geschrieben: Befreiung des Klangs.
"Amériques", das sind Massen von Holzbläsern, Blechbläsern und Schlaginstrumenten, mit Klangkaskaden und Eruptionen, mit explosiver Dynamik, sich überstürzenden Rhythmen - diese Tondichtung ändert ständig ihre Gestalt, ihre Richtung, ihre Geschwindigkeit. Eine Musik, die den Klang befreit, muss Befremden und somit Widerstand auslösen.
"Professionelle Musiker haben mich jahrelang für einen Freak gehalten, Kritiker nannten mich ganz offen einen Scharlatan und machten sich einen Spaß daraus, mich auszulachen. Tatsächlich hat man meine Werke damals nicht wie Experimente behandelt, sondern wie Exkremente."
Edgard Varèse, 1883 in Paris geboren, ist auf dem Land aufgewachsen. Als Kind zieht er mit der Familie nach Turin. Der Junge soll wie der Vater Ingenieur werden, aber er drängt in die Musik, heimlich zum Musikstudium. Zurück in Paris findet er beste Lehrer, lernt Pablo Picasso, Auguste Rodin und Erik Satie kennen, später Debussy und Ravel. Er erlebt in Paris den Skandal um Strawinskys Ballett "Le sacre du printemps". Er komponiert Musikstücke, die er später vernichtet. Doch erst in Amerika findet Varèse zu seiner Musik, wird er, mit dem Wort des Schriftstellers Henry Miller, "der stratosphärische Klangkoloss".
"Sehr früh bemerkte ich, dass es schwierig oder unmöglich sein würde, mich mit den vorhandenen Mitteln auszudrücken. Und mein Denken begann schon damals, um die Idee zu kreisen, wie man die Musik befreien könnte, vom temperierten Tonsystem, von den Beschränkungen der Instrumente und von den Jahren voller schlechter Angewohnheiten, die ironischerweise Tradition genannt werden."
Einfluss auf die Musikgeschichte
Sein vielleicht revolutionärstes Musikstück komponierte Edgard Varèse um 1930, es trägt den Titel "Ionisation", auf Englisch: Ionisation. Varèse, der experimentelle Geist, gründete in Amerika Ensembles und Komponistenvereinigungen, er organisierte Konzerte, dirigierte Orchester. Und erhielt die amerikanische Staatsbürgerschaft. Aus zwei Gründen ist "Ionisation" so berühmt: Varèse setzt hier für die rhythmische Expansion nur Schlaginstrumente für 13 Spieler ein. Und er lässt Sirenen aufheulen, den Schock des unerhört Neuen. Sein Einfluss auf die Musikgeschichte wird greifbar, denn Varèse ist nach dem Zweiten Weltkrieg eine Vaterfigur der radikalen Nachkriegsavantgarde. Bei den Darmstädter Ferienkursen begegnen ihm die jungen Komponisten: Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono oder Pierre Boulez. Stockhausen lernt viel von ihm:
"Man beobachtet von jetzt ab mit größerer Aufmerksamkeit Schallvorgänge in der Natur: Melodien, Harmonien, Rhythmen des Windes, des Wassers, der Glocken, Hämmer, Autos, Maschinen."
Im Jahr 1958 bespielt Edgard Varèse die Brüsseler Weltausstellung, den Philips-Pavillon des Architekten Le Corbusier. Seine Musik für Tonband dort nennt er "Poème électronique". Sieben Jahre später, am 6. November 1965, stirbt Edgard Varèse in New York.